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Pop oder Avantgarde?: Günther Becker und die Ferienkurse ’70

Kilian Scholla

Die 1946 begründeten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik sind als »Zenit der Moderne« (Danuser/Borio 1997) bis heute eine der bedeutendsten Institutionen für zeitgenössische Musik. Die Sommerkurse 1970 gerieten zu einem Wendepunkt, als Teilnehmende gegen etablierte Autoritäten und Organisationsstrukturen rebellierten. Die Debatten dieser Umbruchszeit lassen einen Aushandlungsprozess in Bezug auf das Selbstverständnis der damaligen Avantgarde – insbesondere vor dem Hintergrund der sich bereits seit den 60er Jahren in der internationalen Szene abzeichnenden Tendenzen zu experimentellen Ansätzen, Live-Elektronik und stilistischer Vermischung – erkennen. Günther Beckers sechsteilige Vortragsreihe »Der elektrisch modulierte Klang und seine Funktion« im Rahmen der Kurse 1970 stellt dahingehend ein bemerkenswertes Moment dar, insofern Becker die wechselseitige Durchdringung der Sphären von Neuer, Pop- und Experimenteller Musik postuliert. Becker, der ab 1974 eine Professur für Komposition und Live-Elektronik in Düsseldorf innehatte, erkennt in der Gruppenimprovisation, die die »Klangfarbe als Formungskategorie« mit den neuen technologischen Mitteln verbindet, »Möglichkeiten einer Annäherung von E- und U-Musik«. Anhand der aufgezeichneten Vorträge und Diskussionen lässt sich eine kontroverse Debatte um Qualitätsbegriffe, politische Haltungen und Ästhetiken nachvollziehen, die eine Neubewertung des Akteurs Becker ermöglicht und die Verflechtungen von Institutionsgeschichte, Avantgarde und gesellschaftlichen Veränderungen aufzeigt. Bisher unerschlossene Text- und Klangquellen im Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt, der Akademie der Künste Berlin sowie die Aufführungen von Beckers Improvisationsgruppe Mega-Hertz in Darmstadt zeigen weiterhin, wie das Phänomen Improvisation im Spannungsfeld von Technologie, sozialen und künstlerischen Dimensionen interdisziplinäre Kommunikationsräume eröffnet. Der Beitrag knüpft an aktuelle Debatten zu Methoden der Musikgeschichtsschreibung und Improvisation als performativer Praxis an und eröffnet neue Forschungsperspektiven auf transkulturelle künstlerische Netzwerke der Nachkriegsavantgarde. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des studentischen Forschungsprojektes »Improvisation als Ereignis: musikalische Avantgarde und transkulturelle Netzwerke zwischen Berlin und Darmstadt« (2024–25), das gemeinsam mit Maya Oppitz an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Mitteln der Berlin University Alliance realisiert wurde.