Wo die Steine schreiben. Roger Caillois’ Anthropomorphismen zwischen New Materialism und Literaturwissenschaft
Pit Heinrich
Roger Caillois wird oft als Schriftsteller, als Soziologe, als Sammler von Steinen oder als Spieltheoretiker apostrophiert. Dass Caillois regelmäßig zu Problemen der Poetik publiziert hat, scheint ihn zum Literaturtheoretiker allerdings nicht recht qualifiziert zu haben: keine Spur in den einschlägigen Readern, kein Caillois zwischen Barthes und Derrida. Umso emphatischer fallen die Bezugnahmen in den Manifesten des New Materialism, etwa bei Vicki Kirby, aus. Diese Rezeptionslage ist, so die leitende Hypothese, in erster Linie auf das Problem des Anthropomorphismus bei Caillois selbst zurückzuführen. Dieses Problem soll mit Bezug auf seine Schriften L’Ecriture des pierres (1970) und Pierres réfléchies (1975) entwickelt werden, in denen sich detaillierte Beschreibungen von Steinen aus Caillois’ privater Sammlung mit poetologischen Reflexionen und theoretischen Einsätzen kreuzen: Hier können Steine schreiben, und Mineralien werden zu Autor*innen. Was nach Metaphern klingt – und so in den Lizenzbereich des Literarischen zu verweisen scheint – ist für Caillois ernst gemeinte Theorie. Wer sich nun für eine Lektüre dieser Texte als Theorie entscheidet, sieht sich u. a. mit einer unkontrollierten Ausdehnung von Begriffen wie ›Schrift‹ konfrontiert, die deren anthropogene Spezifität verabschiedet und damit auch den Methodenkoffer der Literaturwissenschaft sprengt. Dem Vortrag geht es nicht darum, Caillois’ Überlegungen zur Schrift der Steine zu bewerten, sondern (1) sie in ihrer spezifischen Form im Grenzbereich von ›Literatur‹ und ›Theorie‹ zu analysieren sowie (2) zu beobachten, wie sich in der Literaturwissenschaft und im New Materialism auf Caillois bezogen wird. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei auch auf die Frage, in welchem methodologischen Rahmen eine solche Bezugnahme gelingen kann. Der Vortrag ist eng an die Ausstellung gebunden, die im Rahmen des X-Tutorials »Vom Leben der Dinge« konzipiert wurde und die im Oktober 2025 in der Philologischen Bibliothek der FU eröffnet.