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Menschenrechtsschutz im Aufenthaltsrecht: Zur Bedeutung von UN-Ausschuss- und EGMR-Entscheidungen in der deutschen Rechtsprechung

Maya Diekmann (i.A. UN-Sichtbar-Projekt)

Nationale Gerichte sind dazu verpflichtet, Entscheidungen menschenrechtlicher Institutionen, wie beispielsweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und der Fachausschüssen der Vereinten Nationen (UN), bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Insbesondere im Migrationsrecht spielen solche Vorgaben eine zentrale Rolle. Dennoch gibt es kaum empirische Daten zu deren Heranziehung durch nationale Gerichte. Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags untersucht, ob, in welchem Umfang und in welchem Zusammenhang deutsche Gerichte menschenrechtliche Entscheidungen in der aufenthaltsrechtlichen Rechtsprechung berücksichtigen. Der Beitrag basiert auf einer Analyse aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen aus den Jahren 2023 und 2024, die auf Entscheidungen des EGMR und der UN-Ausschüsse verweisen. Die Fälle wurden mithilfe verschiedener Rechtsprechungsdatenbanken identifiziert und in die folgenden vier Fallgruppen eingeteilt: Aufenthalt aus humanitären Gründen, Aufenthalt aus familiären Gründen, Rückkehrentscheidungen und aufenthaltsrechtliche Haftentscheidungen. Anschließend wurden sie hinsichtlich Häufigkeit und Art der Bezugnahme auf EGMR und UN-Ausschuss Entscheidungen sowie Kontext und Wirkung der Bezugnahme im nationalen Recht analysiert.  Die Analyse zeigt, dass nationale Gerichte trotz hoher Relevanz nur selten Bezug auf menschenrechsbasierte Entscheidungen nehmen. Entscheidungen von UN-Ausschüssen wurden in keinem Fall erwähnt. Im Gegensatz dazu wurde der EGMR zwar zitiert, dies geschah jedoch meist oberflächlich und textbausteinartig. Nur selten setzten sich Gerichte ausführlich mit der EGMR-Rechtsprechung auseinander. Entscheidungen des EGMR wurden insbesondere in Bezug zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Privat- und Familienleben) herangezogen; eine Bezugnahme fand besonders häufig in der Fallgruppe der Rückkehrentscheidungen statt. Dabei war jedoch auffällig, dass sie regelmäßig für eine restriktive Auslegung nationalen Rechts, etwa zur Begründung des staatlichen Ausweisungsinteresses, herangezogen wurden. Innerhalb der Fallgruppe aufenthaltsrechtlicher Haftentscheidungen gab es kaum Verweise auf EGMR-Rechtsprechung, obwohl hier der Eingriff in die Menschenrechte besonders gravierend ist. Insgesamt zeigt die Analyse, dass menschenrechtliche Entscheidungen in aufenthaltsrechtlicher Rechtsprechung nur selektiv berücksichtigt werden und strukturell unterrepräsentiert bleiben.