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Dem Verhalten der Wähler*innen auf der Spur

Einstein BUA/Oxford Visiting Fellow Tarik Abou-Chadi spricht über seine Forschung zum Wähler*innenverhalten in einer sich wandelnden politischen Landschaft in Europa

27.03.2024

Political scientist Tarik Abou-Chadi from the University of Oxford

Political scientist Tarik Abou-Chadi from the University of Oxford
Bildquelle: Anne Linke

Ein wichtiger Bestandteil der Wissenschaftskooperation der Berlin University Alliance mit der University of Oxford sind die Einstein BUA/Oxford Visiting Fellowships. Vergeben werden sie an herausragende Forscher*innen wie den Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi. Er erforscht das Wähler*innenverhalten in einer sich wandelnden politischen Landschaft in Europa.

Die europäische Politik hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Neue Themen wie Klimawandel, Einwanderung und die Gleichstellung der Geschlechter sind auf die Agenda gerückt und dominieren sie. Neue Parteien sind entstanden – am rechten wie am linken Rand des Spektrums. Und im Zuge dessen werden Regierungskoalitionen geschmiedet, die von den beteiligten Parteien Kompromisse und mitunter ein Abrücken von ihren traditionellen Zielen fordern.

Rücken die Parteien damit auch von ihrer Wähler*innenschaft ab? Den Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi treibt dieser Wandel schon seit Jahren um, als politisch interessierter Mensch wie als Wissenschaftler. Abou-Chadi ist Professor an der University of Oxford und seit Sommer 2023 auch Einstein BUA/Oxford Visiting Fellow in Berlin.

Seine Fellowship an der BUA wird im Rahmen der Oxford-Berlin-Wissenschaftspartnerschaft von der Einstein Stiftung gefördert. Im Zuge dessen hat Abou-Chadi für sein Projekt „Electoral trade-offs in progressive politics“ – übersetzt etwa: „Das Abwägen unterschiedlichen Wahlverhaltens im Kontext progressiver Politik“ – eine kleine Forschungsgruppe mit einem Postdoc und einem Doktoranden an der Humboldt-Universität (HU) eingerichtet. Seine wissenschaftliche Gastgeberin und Partnerin auf Berliner Seite ist die Politikwissenschaftlerin Heike Klüver, Professorin an der HU. Klüvers Spezialgebiet ist „Politisches Verhalten im Vergleich“

Diverse Wähler*innenschaft

Welche Klientel wo auf dem Stimmzettel ihr Kreuz setzt, ist heute nicht mehr so eindeutig zuordenbar.

Welche Klientel wo auf dem Stimmzettel ihr Kreuz setzt, ist heute nicht mehr so eindeutig zuordenbar.
Bildquelle: Mika Baumeister/Unsplash

„Welche Gruppen können sozialdemokratische, grüne, linksradikale und andere Parteien mit unterschiedlichen programmatischen Profilen ansprechen?“, nennt Abou-Chadi eine Fragestellung des Projekts. Denn während es vor einigen Jahrzehnten noch relativ einfach zu sein schien, vorherzusagen, welche Bevölkerungsgruppen oder -schichten welche Parteien wählen werden, ist die „Klientel“ der Parteien heute diverser und bei weitem nicht mehr so einfach zu bestimmen wie früher.

Das zeigt ein Blick vor unsere eigene, deutsche Haustür: Wer die Grünen wählt, ist nicht mehr automatisch eindeutig links von der Mitte zu verorten. Und auch CDU-Wähler*innen engagieren sich für Umweltschutz und Nachhaltigkeit.

Die frühere klassische Kernwählerschaft der SPD wiederum – die Arbeiter*innen, die sogenannten „kleinen Leute“ – ist abgeschmolzen. Wer heute zu dieser Schicht gehört, hält der Partei längst nicht mehr bei jeder Wahl die Treue und sympathisiert mittlerweile auch mit Parteien am rechten Rand, vielfach aus Frustration über das politische Establishment. Ähnliches ist in anderen europäischen Ländern wie etwa Frankreich oder Italien zu beobachten.

Abou-Chadi, der an der Humboldt-Universität studierte und promovierte und dort bestens vernetzt ist, ist seit 2021 Associate Professor für die Fachgebiete Europäische Union und vergleichende europäische Politik am Nuffield College in Oxford. Das College ist fachlich auf Sozialwissenschaften ausgerichtet, Abou-Chadi unterrichtet dort hauptsächlich Master-Studierende. „Nuffield ist ein Glücksfall für mich, denn für gewöhnlich sind Oxford-Colleges nicht so sehr auf spezielle Fächergruppen, sondern eher allgemein ausgerichtet“, sagt der 38-Jährige.

Über einen Zeitraum von drei Jahren betreut der Politikwissenschaftler nun seine Berliner Einstein-Arbeitsgruppe von Oxford aus. Er wird sein Team aber auch in regelmäßigen Abständen in Berlin treffen.

Der Aufstieg der Rechten und die Wahlkrise der Sozialdemokraten

Die Wanderungsbewegungen der Wähler*innen stehen im Fokus der Untersuchungen

Die Wanderungsbewegungen der Wähler*innen stehen im Fokus der Untersuchungen
Bildquelle: Claudio Schwarz/Unsplash

Als international anerkannter Experte auf dem Gebiet der politischen Parteien und des Wahlverhaltens konzentriert sich seine Forschung auf den Wandel der Parteipolitik in Westeuropa. In zahlreichen Studien und Artikeln hat er sich mit dem Aufstieg der radikalen Rechten und der grünen Parteien sowie der Wahlkrise der Sozialdemokratie beschäftigt. Zurzeit schreibt Abou-Chadi an einem Buch über sozialdemokratische Parteien.

Eine hochaktuelle Frage des Einstein-Forschungsprojekts ist: Wie kann es den etablierten Parteien gelingen, Wähler*innen zu gewinnen oder, andersherum gefragt: Wie können sie verhindern, dass enttäuschte Wähler*innen ihre Stimme rechtsextremen Parteien geben, weil die etablierten Parteien ihre Interessen nicht mehr ausreichend zu vertreten scheinen?

„Wir untersuchen, wie die programmatischen Appelle der Parteien in diesem Umfeld die Unterstützung durch verschiedene Gruppen beeinflussen. Ein Kerngedanke zum Verständnis dieser unterschiedlichen Unterstützungsmuster ist das Konzept des Trade-offs“, erläutert Abou-Chadi. „Einfach ausgedrückt: Wenn eine Partei eine Wählergruppe anspricht, kann sie eine andere Gruppe verprellen, weil sie in die eine oder andere Richtung bereit ist, über politische Inhalte zu verhandeln.“

„Ich betreibe keine Politikberatung“

In einem Mehrthemen- und Mehrparteienraum, in dem die Parteien neue Wahlbündnisse schmieden, sei das Konzept des Trade-off zu einem festen Bestandteil geworden. Bislang sei erst wenig dazu geforscht worden, sagt Abou-Chadi. Das Forschungsprojekt möchte diese Lücke schließen.

„Ich betreibe mit diesem und auch mit meinen anderen Projekten Grundlagenforschung und selbstverständlich keine Politikberatung“, betont der Politikwissenschaftler. „Meine Fachkolleg*innen und ich wollen mittelfristige Entwicklungen erklärbar machen.“

Er nennt ein Beispiel: „Auf Grundlage von Forschungsergebnissen aus den zurückliegenden Jahren kann man sagen, dass den Sozialdemokraten eine Wende hin zu einer restriktiveren Migrationspolitik nicht dabei helfen würde, mehr Wählerstimmen zu gewinnen.“ Als Forscher, sagt der Wissenschaftler, könne er nur immer wieder gegen dieses Narrativ argumentieren. „Aber die Schlüsse für ihr politisches Handeln müssen die Parteien selbst ziehen.“

Weitere Informationen

Einstein BUA/Oxford Visiting Fellowships

Mit dem Programm „Einstein BUA/Oxford Visiting Fellow“ werden Spitzenwissenschaftler*innen sowie exzellente Nachwuchswissenschaftler*innen mit etablierter Forschungsposition an der University of Oxford längerfristig in die Berliner Forschungs- und Wissenschaftslandschaft eingebunden. Das Ziel: die Stärkung der Oxford-Berlin Wissenschaftskooperation. Die Förderung mit je 500.000 Euro, die ein Forschungsteam am Standort Berlin finanziert, erstreckt sich über drei Jahre.

Weitere Fellows und ihre Projekte sind:

„The Global Literary History of the Seven Sages of Rome“

Gastgeberin: Prof. Dr. Jutta Eming, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin, Visiting Fellow: Dr. Ida Toth, Wolfson College, Oxford

 „The Boundaries of Cosmopolis: Berlin and London“
Gastgeberin: Prof. Dr. Gesa Stedman, Centre for British Studies, Humboldt-Universität, Visiting Fellow: Prof. Stefano Evangelista, Trinity College, Oxford

 „AfterWords“
Gastgeberin: Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm, Freie Universität / EXC 2020 "Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective" / Friedrich Schlegel Graduate School of Literary Studies”, Visiting Fellow: Prof. Karen Leeder, New College, Oxford 

„Glucose metabolism: a new target for stroke and vascular dementia prevention“
Gastgeber: Prof. Dr. med. Andreas Meisel, Direktor des Centrums für Schlaganfallforschung Berlin (CSB), Charité, PD Dr. med. Philipp Mergenthaler, Einstein Junior Fellow, CSB, Charité, Visiting Fellow: Prof. Peter M. Rothwell, Nuffield Department of Clinical Neurosciences, Oxford

 „A transitional platform for understanding and utilising neuronal dynamics to improve treatment for movement disorders“
Gastgeberin: Prof. Dr. Andrea Kühn, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, Visiting Fellow: Prof. Andrew Sharrot, MRC Brain Network Dynamics Unit, Oxford