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Forschungskollaboration auf Augenhöhe: Was der Globale Norden vom Globalen Süden lernen kann

Claudia Derichs (3.v.r.) mit ihren Kolleginnen von "Assosiasi Studi Gender dan Anak", einer  universitätsübergreifenden Vereinigung für Geschlechterstudien in Indonesien

Claudia Derichs (3.v.r.) mit ihren Kolleginnen von "Assosiasi Studi Gender dan Anak", einer universitätsübergreifenden Vereinigung für Geschlechterstudien in Indonesien
Bildquelle: Universitas Airlangga

Die Projekte „co2libri“ und „CritUP“ erkunden die Zusammenarbeit mit Partner*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien. Warum wissen wir so wenig über die Forschungstheorien des Globalen Südens? Und wie können wir das ändern?

Englisch ist die Lingua franca in der Wissenschaft. Auf internationalen Konferenzen oder in wissenschaftlichen Artikeln ist Englisch für die meisten Forscher*innen die Regel. Aber kann das auch dann gelten, wenn nicht-akademisierte Aktivist*innen oder Mitarbeiter*innen von NGOs Partner:innen in einem Forschungsprojekt sind? Fremdsprachenkenntnisse sind nicht in jedem Fall selbstverständlich.

Sprache ist ein Schlüssel – das gilt umso mehr, wenn es um kollaborative Forschungsprojekte mit Partner*innen aus dem sogenannten Globalen Süden geht. Ob Kolonialismusdebatte, gesellschaftliche Veränderungen oder soziale Bewegungen – in den Geistes- und Sozialwissenschaften kommen die theoretischen Grundlagen zur Betrachtung des Forschungsgegenstands meistens aus dem Globalen Norden, aus den USA oder Europa. Vielfach ist das so, weil wissenschaftliche Debatten oder Papers von Wissenschaftler*innen aus Lateinamerika, Afrika oder Asien teils nur in den jeweiligen Landessprachen vorliegen. Ihre Theorien finden folglich bislang deutlich weniger Beachtung.

Die Berlin University Alliance (BUA) fördert zwei Forschungsprojekte, die das bestehende Ungleichgewicht selbstkritisch in den Blick nehmen: „co²libri -  Conceptual Collaboration: Living Borderless Research Interaction“ und „CritUP - Critical Theory Under Pressure: Building Networks for Transnational Dialogue“, beide Projekte sind an Humboldt-Universität und Freier Universität angesiedelt, weiterer Projektpartner ist das Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO). Dabei steht jeweils die Frage im Zentrum, wie der Austausch von Wissen und die Kollaboration besser und auf Augenhöhe funktionieren können. „Co²libri“ und „CritUP“ werden vom Berlin Center for Global Engagement (BCGE) gefördert und sind Ende 2022/Anfang 2023 gestartet. Das BCGE ist die BUA-Plattform für Forschungskooperation mit dem Globalen Süden.

Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin

Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin
Bildquelle: Marvin Ester

Das sieht Robin Celikates ebenso. Auch der Philosoph ist unzufrieden mit der Asymmetrie der Wissensstände. „In meinem Forschungsgebiet, der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die auch Ausgangspunkt für CritUP ist, herrscht seit jeher ein extrem US- und europazentrierter Blick.“ Lange Zeit sei Forschenden aus dem Globalen Norden gar nicht bewusst gewesen, wie intensiv die Kritische Theorie in Ländern des Globalen Südens, etwa in Lateinamerika oder in Asien, rezipiert und weiterentwickelt worden ist. „Kommen wir auf Konferenzen mit diesen Kolleginnen und Kollegen zusammen, wissen sie bestens über unsere Debatten und Veröffentlichungen Bescheid. Umgekehrt ist das leider häufig nicht der Fall. Das müssen wir ändern.“

Südamerika, beispielsweise, sei zu einem sozioökonomischen und politischen Labor geworden, „in dem sich Tendenzen manifestieren, die zunehmend auch den globalen Norden betreffen könnten. Denken Sie etwa an neoliberale Sparpolitik und autoritäre Bedrohungen der akademischen Freiheit. Damit müssen sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Ländern des Globalen Südens auseinandersetzen, etwa in Brasilien oder Chile. Ähnliches gilt natürlich auch für andere Regionen und Länder – China, Iran oder auch die Türkei.“ CritUP-Projektpartner sind Forscher*innen aus Peru, Chile, Brasilien und der Türkei.

Was Celikates in Bezug auf die Rezeption und Weiterentwicklung kritischer Denktradtionen beobachtet, gilt auch für andere Fachgebiete, etwa die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Islam.

Mit Islam Studies wird fast automatisch der Nahe und Mittlere Osten, speziell die arabischen Länder, verknüpft oder auch der westliche Blick auf den Islam. In Indonesien ist über die Jahrzehnte eine eigene islamwissenschaftliche Denkschule entstanden, doch das ist weniger bekannt. Der Islamwissenschaftler Syafiq Hasyim, der an der Indonesian International Islamic University in Jakarta lehrt, betont, wie wichtig vielfältige Perspektiven auf den Islam sind. Hasyim gehört zu den Fellows, die Claudia Derichs im Rahmen von „co²libri“ an die Humboldt-Universität eingeladen hat. 

Projektlogo

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Bildquelle: co2libri

„Unsere Universität unterscheidet sich vom Angebot und Ansatz her von Islamischen Universitäten beispielsweise in Malaysia oder Pakistan“, erläutert Hasyim. „Wir sind eine allgemeine Hochschule und bieten alle gängigen Fakultäten an. Vor allem aber verfolgen wir von Anfang an einen interdisziplinären und anwendungsbezogenen Ansatz.“ Das bedeute auch: „Die Universität ist offen für Studierende und Lehrende, die keine Muslime sind.“ Genau diese Vielfalt der Sichtweisen sei für ihn und seine Kolleginnen und Kollegen grundlegend, betont Hasyim, der vor längerer Zeit bereits als Doktorand mehrere Jahre in Berlin verbracht hat.

Indonesische Universitäten unterscheiden sich mit ihrem anwendungsbezogenen Ansatz von dem häufig stark akademischen Blick auf Forschungsthemen an deutschen Universitäten: „In Indonesien sagen wir: Universitäten müssen ihr Wissen mit der Gesellschaft teilen und ein Teil von ihr sein – das Gegenteil von einem Elfenbeinturm,“ sagt Hasyim. Hier kann der Globale Norden vom Globalen Süden einiges lernen.

Claudia Derichs hat in Indonesien ein beeindruckendes Empowerment-Projekt fern von jedem Elfenbeinturm kennengelernt: Das interdisziplinäre Center for Gender and Child Studies an der Christian University Sataya Wacana in Salatiga begleitet ein ökofeministisches Projekt in der Batik-Produktion. Die Arbeiterinnen werden darin unterstützt, statt der gesundheitsschädlichen chemischen Farben ihre selbsthergestellten Naturfarben für die traditionelle Stofffärbekunst zu benutzen. „Marketingstudierende waren in diesem Projekt ebenso dabei wie Informatikerinnen und Informatiker oder Biochemiker“, erläutert Derichs. „Von solchen Projekten wünsche ich mir mehr auch in Deutschland.“

„co²libri“ und „CritUP“ arbeiten daran, solche nachahmenswerten Beispiele aus dem Globalen Süden bekannter zu machen. Beide Forschungsprojekte sind somit ein gutes Beispiel für ein zentrales Ziel der BUA: Gemeinsam mit Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Wissenschaft noch kooperativer, inklusiver, transparenter und überprüfbarer zu machen.

Projektlogo

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Bildquelle: critUP

Projektleiter*innen sind die Regionalwissenschaftlerin Claudia Derichs, Professorin für Transregionale Südostasienstudien an der Humboldt-Universität (gemeinsam mit Prof. Kai Kresse, ZMO/Freie Universität), und der Philosoph Robin Celikates, Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität (gemeinsam mit Professorin Rahel Jaeggi von der Humboldt-Universität). Die Fördermittel nutzen sie unter anderem, um Fellows aus Ländern des Globalen Südens für Forschungsaufenthalte nach Berlin einzuladen, Doktorandenstellen zu finanzieren oder Übersetzungen von wissenschaftlichen Texten in Auftrag zu geben.

Beide sind sich einig: Dolmetscher*innen auf Konferenzen und Übersetzungen von Fachartikeln sind ein erster wichtiger Schritt. „Deutsche beziehungsweise europäische Forschende könnten ihrerseits auch Angebote für Sprachkurse an ihren Hochschulen nutzen, um sich Grundkenntnisse etwa in Swaheli oder Indonesisch oder in einer anderen benötigten Sprache anzueignen“, schlägt Claudia Derichs außerdem vor.

Denn, wie die Regionalwissenschaftlerin betont: „Wir wollen mit unseren Projekten keine Theorie für kollaborative Projekte mit dem Globalen Süden entwickeln. Unser Ziel sind klar praktische Konzepte.“

Dass es daran hapert, stört Derichs, die als Forscherin immer wieder Zeit in Südostasien verbringt, schon seit langem: „Die in den letzten Jahrzehnten mantraartig wiederholte Forderung, mit Akteur*innen des globalen Südens zusammen zu forschen und nicht nur über sie, hat bislang nicht zu befriedigenden Konzepten für eine systematische Vorgehensweise geführt.“

Dies zu ändern, sei ihre Motivation für „co²libri“. Projektpartner*innen sind unter anderem Forscher*innen aus Pakistan, Palästina und den Philippinen. „Forschende in kollaborativen Projekten, die sich beispielsweise mit sozialen Bewegungen oder Aktivismus beschäftigen“, sagt Derichs, „können damit beginnen, sich zunächst über die unterschiedlichen Lesarten von Begriffen wie etwa Empowerment auszutauschen und dabei vorgefertigte Vorstellungen am besten komplett aus dem Kopf zu verbannen. Denn es gibt natürlich verschiedene Deutungen vom Empowerment.“ Im Englischen spricht man – sehr treffend - von „unlearning“.

Weitere Informationen

Die Projekte (Förderdauer jeweils drei Jahre):

„co²libri -  Conceptual Collaboration: Living Borderless Research Interaction“, Projektleitung: Prof. Dr. Claudia Derichs (Humboldt-Universität) und Prof. Dr. Kai Kresse (ZMO/Freie Universität)

„CritUP - Critical Theory Under Pressure: Building Networks for Transnational Dialogue“, Projektleitung: Prof. Dr. Robin Celikates (Freie Universität) und Prof. Dr. Rahel Jaeggi (Humboldt-Universität).