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Das größte Hindernis ist nicht der Rollstuhl

Alexandra Tzilivaki

Alexandra Tzilivaki
Bildquelle: Christos Tsoumplekas

Die Wissenschaft profitiert von Talenten aus der ganzen Welt, die nicht nur ihre Fachexpertise, sondern auch unterschiedliche Erfahrungen und Lebensgeschichten einbringen. Die europäischen Wissenschaftsinstitutionen bekennen sich ausdrücklich zu Vielfalt und Diversität in der Forschung. Doch für Angehörige von unterrepräsentierten Gruppen ist der Weg in die wissenschaftliche Karriere dennoch häufig besonders schwierig. Die Molekularbiologin und Hirnforscherin Alexandra Tzilivaki musste enorme Hürden überwinden, um in Berlin arbeiten zu können. 

Die Freude war groß, als Alexandra Tzilivaki im Jahr 2017 die Zusage für ein Promotionsstipendium beim Einstein Center for Neurosciences Berlin (ECN) – einem der größten neurowissenschaftlichen Netzwerke Deutschlands – erhielt. Die Nachwuchsforscherin aus Griechenland plante sofort ihren Umzug von Heraklion auf Kreta, wo sie ihr Masterstudium in Molekularbiologie und Biomedizin absolviert hatte, nach Berlin. Im Exzellenzcluster NeuroCure wollte sie ihre bereits in Griechenland begonnene Forschung über spezielle Nervenzellen in Säugetierhirnen – sogenannte inhibitorische Interneuronen – und deren Einfluss auf das Lernen und Erinnern fortsetzen und darüber promovieren. 

Mit Computermodellen Nervenzellen erforschen 

In der wissenschaftlichen Karriere ist so ein Umzug in ein anderes Land, der Abschied vom gewohnten Umfeld, von Familie und Freunden, keine Seltenheit. Doch im Fall von Alexandra Tzilivaki ist dieser Schritt dennoch sehr besonders. Tzilivaki ist eine exzellente Wissenschaftlerin, die mithilfe von Computermodellen die Funktionsweise von Nervenzellen untersucht. In der frühen Kindheit wurde bei ihr Spinale Muskelatrophie diagnostiziert. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl, kann Hände und Kopf nur eingeschränkt bewegen. Die Erkrankung nimmt die junge Frau als Herausforderung: „Zu verstehen, was sich hinter Begriffen wie „Zellen“, „Neuronen“, „Funktionen“ oder „Proteinen“ verbirgt, hat mich schon immer fasziniert“, erklärt sie. „Solange ich denken kann, hat mich das motiviert, Wissenschaftlerin zu werden und alle möglichen Hindernisse auf diesem Weg zu überwinden.“ 

Nach der Zusage aus Berlin regelte die damals 24-Jährige alle notwendigen Dinge, kündigte ihre Wohnung, packte ihre Sachen, gab eine Abschiedsparty für Freunde. Doch dann kam alles anders. Alexandra Tzilivaki erhielt einen Anruf aus Berlin: Sie könne leider nicht wie geplant im Oktober nach Berlin kommen, es gebe „kleine Hindernisse.“ 

Für die Wissenschaft ins Ausland 

„Das war ein Schock“, erinnert sich die Forscherin. Denn für sie war klar: Für eine wissenschaftliche Karriere auf Spitzenniveau war es wichtig zu zeigen, dass sie mobil, unabhängig und flexibel war, dass sie an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Arbeitsgruppen gut zusammenarbeiten konnte. „Wissenschaft ist kein Beruf, Wissenschaft ist eine Berufung“, sagt sie. Für ihren Traum war sie bereit zu kämpfen und eine jahrelange Odyssee auf sich zu nehmen. Denn es sollte insgesamt viereinhalb Jahre dauern, bis sie nach Berlin kommen konnte. 

Von Beginn an hat auch Linda Faye Tidwell diese Odyssee begleitet. Sie ist am Einstein Center for Neurosciences Berlin und am Exzellenzcluster NeuroCure für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. „Es gab viele Dinge, die wir organisieren mussten und jeder im Büro hat eine Aufgabe übernommen“, beschreibt sie die Fülle an administrativen Herausforderungen, die auch von den Mitarbeitenden im ECN bewältigt werden mussten, um die Wissenschaftlerin nach Berlin zu holen. „Am Anfang wussten wir gar nicht, wo wir anfangen sollten und woher wir Informationen und Unterstützung erhalten.“ 

E-Mails, Anträge, Formulare 

Es gab keine Blaupause für einen ähnlichen Fall – eine Stipendiatin im Rollstuhl, die auf Hilfe und Betreuung angewiesen ist, aus dem Ausland nach Deutschland zu holen. Wer übernimmt welche Kosten? Welche Institutionen und Versicherungen sind zuständig? Welche Gesetze und Regelungen gelten? All diese Informationen mussten mühsam zusammengesucht werden. Auch eine rollstuhlgerechte, bezahlbare Wohnung in Berlin zu finden, war nahezu unmöglich. 2018 traf Alexandra Tzilivaki ihren Mentor und zukünftigen Betreuer Professor Dietmar Schmitz, Sprecher des Exzellenzclusters NeuroCure an der Charité – Universitätsmedizin. Er sagte: „Alexandra, es gibt keine Probleme, es gibt nur Herausforderungen.“ Aufgeben war keine Option. 

Schritt für Schritt meisterten Alexandra Tzilivaki und die Teams von ECN und NeuroCure diese Herausforderungen in den kommenden Monaten und Jahren, schrieben unzählige E-Mails, füllten Anträge und Formulare aus und führten Gespräche mit Pflege-, Sozial- und Krankenkassen, mit Ämtern und Behörden. 2018 begann die Neurowissenschaftlerin offiziell ihr Promotionsstipendium an der Charité – allerdings von Griechenland aus und in ihrer alten Arbeitsgruppe an der Universität in Heraklion. Denn bevor sie die für ihre Arbeit notwendige Pflegeassistenz in Deutschland erhalten konnte, musste sie zwei Jahre lang als Arbeitnehmerin in die deutsche Pflegeversicherung einzahlen. Eine scheinbar unüberwindbare Hürde für jemanden, der auf Pflege angewiesen ist, aus dem Ausland kommt und eine Arbeitsstelle in Deutschland antreten möchte. „Das ist in erster Linie kein deutsches, sondern ein europäisches Problem. Es gibt im Jahr 2024 immer noch keine europäische Strategie für die Mobilität von Forscherinnen und Forscher mit einer Beeinträchtigung“, fasst Alexandra Tzilivaki zusammen. „Wir sind die Minderheit in einer Minderheit.“ 

Endlich Berlin 

Die Forscherin hielt durch und konnte schließlich 2021 endlich nach Berlin umziehen und ihre Forschung in der Arbeitsgruppe von Dietmar Schmitz fortsetzen. „Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war, als ich am Flughafen in Berlin ankam“, erzählt sie. In diesem Moment hätten sich die viereinhalb Jahre gelohnt. 

Nun kann sie sich voll auf ihre Forschung konzentrieren und detaillierte biophysikalische Modelle einzelner Neuronen und großer neuronaler Netzwerke konstruieren. Mit diesen kann sie die genaue Funktionsweise der inhibitorischen Interneuronen untersuchen. „Das Gehirn ist das vielfältigste Organ unseres Körpers und so vieles ist noch nicht erforscht. Ich hoffe, ich kann mit meiner Arbeit viele neue Erkenntnisse über wichtige Funktionen beitragen“, erklärt sie. Berlin biete dafür den optimalen Rahmen. „Hier im Cluster und ECN gibt es großartige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, es ist eine offene, interdisziplinäre, motivierte und erfolgreiche Gemeinschaft.“ Ihre Promotion wird die Forscherin demnächst abschließen und möchte danach weiterhin in Berlin leben und forschen. Denn hier fühlt sie sich auch abseits der Wissenschaft wohl: „Ich fühle mich sicher und ich fühle mich nicht anders als andere. Diese Stadt hat einen Multi-Kulti-Vibe. Und das ist ein großer Vorteil gegenüber anderen großen Metropolen.“ 

Ein ausführliches Interview mit Alexandra Tzilivaki lesen oder als Podcast hören.