TEMPORAL COMMUNITIES: DURCH ZEITEN UND RÄUME
Doing Literature in a Global Perspective – Globale Literatur neu denken
Im Medium der Literatur legen Menschen seit Jahrtausenden Rechenschaft über sich selbst ab. Auf die Frage „Wer sind wir?“ haben unterschiedliche Kulturen in literarischen Ausdrucksformen ganz verschiedene Antworten gegeben. Nicht selten sind diese Antworten verschlüsselt, das heißt eingefaltet in die Sprache der Dichtung, die Strategien des Erzählens oder die Formen der Kunst.
Dichtung und Kunst schaffen neue, ästhetisch vermittelte Sichtweisen auf die Realität, indem sie freizügig Materialien und Stoffe bestehender und vergangener Welten aufgreifen, sich dieses Material immer wieder anverwandeln und neu kombinieren, so wie auf dem hier ins Bild gesetzten Collage-Objekt: Das auf den ersten Blick verwirrende Durcheinander von Artefakten und Zeugnissen aus diversen Zeiten und Kulturen stiftet unerwartete Verbindungen, bringt Dinge und Ideen in einen Dialog, die zunächst wenig miteinander zu tun zu haben scheinen und sich gerade deshalb gegenseitig erhellen.
Verflechtungen von Dingen, Gedanken und Werken
Der literaturwissenschaftliche Exzellenzcluster Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective erforscht, wie sich die Literatur in ständig wechselnden Verflechtungen – vor allem auch zeitlichen – mit anderen Künsten und Medien stets neu erfindet und damit alternative Perspektiven auf die komplexen Welten eröffnet, in denen wir leben und in denen sich die Kulturen der Vergangenheit bewegten.
Der Cluster untersucht nicht nur als kanonisch bezeichnete Werke, sondern auch weniger bekannte und marginalisierte Texte, um ein umfassenderes Bild der globalen Literaturgeschichte zu zeichnen.
Hier bekommt ihr einen Einblick in einige Forschungsprojekte von Temporal Communities!
„Writing Berlin“ – Berlin als literarische Frontstadt im Kalten Krieg
Eines der Projekte, mit denen Temporal Communities in den letzten sechs Jahren die Literatur erforscht hat, ist Writing Berlin. Es untersucht, wie die beiden Hälften der geteilten Metropole Berlin nach dem Mauerbau kulturell und literarisch „aufgerüstet“ wurden. Als Zentren internationaler Literaturpolitik wurden sie mit Energie und Einfallsreichtum zu strahlenden Schaufenstern ihrer konkurrierenden ideologischen Systeme gestaltet.
Literatur im politischen Spannungsfeld
Dichter:innen, Schriftsteller:innen, Essayist:innen und Künstler:innen aus aller Welt wurden im Wettstreit um die kulturelle Vorherrschaft nach Berlin eingeladen und sollten hier politisch vereinnahmt werden.
Doch so sehr Literatur und Kunst auch in den Dienst der Politik gestellt wurden, so sehr entwickelten sie ihre eigenen Dynamiken, mit denen sie die Zielsetzungen des kulturellen Wettkampfs in Frage stellten – manchmal sehr bewusst, viel häufiger jedoch durch die Art und Weise, wie Literatur sich durch ihre Vieldeutigkeit immer wieder dem politischen Zugriff entzieht.
Alexander der Große als märchenhafter Herrscher
Das Projekt Imperial Fictions spürt den phantastischen Anverwandlungen nach, denen der makedonische Herrscher Alexander der Große über Jahrhunderte hinweg in vielen Sprachen und Literaturen unterzogen wurde. Der spätantike "Alexanderroman" ist eine märchenhafte Umdichtung seines Lebens und einer der meistübersetzten und zwischen dem 4. und dem 16. Jahrhundert neben der Bibel wahrscheinlich meistgelesensten Texte der Weltliteratur.
Er beschreibt in unterschiedlichen Fassungen die Eroberungszüge Alexanders als exotische Abenteuerfahrt, auf der sich der antike Monarch mit einer Flugmaschine in den Himmel tragen und mit einer Art Unterseeboot auf den Meeresboden hinabsenken lässt, wo er gegen Ungeheuer kämpft, mit nackten Philosophen diskutiert und einen Palast aus Edelsteinen entdeckt. Bis an den Rand der bekannten Welt, bis an die Grenzen der Erkenntnis strebt der unersättliche Herrscher nach Wissen und Macht. Die Erlebnisse Alexanders wurden immer wieder umgedichtet, um ihn als Helden für unterschiedlichste Kulturen und Identitäten verfügbar zu machen: In Indonesien wurde er sogar zum frommen Muslim erklärt.
Der makedonische Eroberer: ein kultureller Schmelztiegel
Die Forschenden von Temporal Communities untersuchen diese bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit und die Nachwirkungen des Alexanderromans und lernen so die Prozesse kennen, in denen sich Kulturen in der Begegnung mit dem Fremden stets neu erfinden.
Weltliteratur als digitales Modell
Das Projekt Digital Observatory of World Literature untersucht, wie das Internet und digitale Datenbanken Vorstellungen von „Weltliteratur“ entwickeln, die denen, wie sie im Westen seit Goethes Einführung des Begriffs diskutiert wurden, mitunter erstaunlich ähnlich sehen.
Im Mittelpunkt stehen dabei Informationsobjekte wie Autoren, Werke und Rezeptionsdaten, wie sie über entsprechende Normdaten in digitalen Enzyklopädien, Wissensdatenbanken, Katalogen und in der Linked Open Data Cloud (Wikipedia, Wikidata, DBpedia, Index Translationum, VIAF, verschiedene Nationalbibliotheken etc.) repräsentiert sind.
Neues Verständnis von Weltliteratur?
Spiegeln das Internet und die Datenbanken nur wider, was man im Westen immer schon gedacht hat? Oder eröffnet die digitale Sphäre vielmehr die Chance, „Weltliteratur“ anders zu verstehen und neue Verflechtungen zu erkunden, welche die kulturelle Dominanz des Westens in Frage stellen?
Das Projekt beschreibt die Art und Weise, wie Datenströme bestehende Konzepte von „Weltliteratur“ stützen können und sucht zugleich nach Wegen, sich mit Hilfe des Digitalen von den überkommenen westlich-europäischen Vorstellungen zu lösen – so, wie es auch der Cluster Temporal Communities als Ganzer tut.