Berlin: Labor für Solidarität
BUA-Projekt „Transforming Solidarities“ erforscht wie Solidarität in einer diversen Gesellschaft gelebt und gestaltet wird
30.09.2022
Was ist Solidarität eigentlich? Wie wird Solidarität in Berlin gelebt? Und wie kann solidarisches Handeln die Art und Weise, wie wir wohnen, arbeiten und gesund bleiben, verändern? Das erforscht ein transdisziplinäres Forschungsprojekt von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin, gefördert von der Berlin University Alliance.
Das Projekt „Transforming Solidarities“ erforscht Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ – am Beispiel der globalisierten und vernetzten Stadtgesellschaft Berlins.
Bildquelle: Pablo Hermoso, Unsplash
Um als Gesellschaft Krisen zu begegnen, wird oft auf Solidarität gesetzt. Da die Krisen unserer Zeit — von der Coronapandemie über den Krieg in der Ukraine bis zur Klimakrise — nicht alle Menschen gleich stark treffen, wird oftmals solidarisches Denken und Handeln gefordert. Dabei zeigen Krisen aber auch, wo soziale Strukturen unsolidarisch sind. Auch wenn Solidarität als politische Idee und wissenschaftlicher Begriff oftmals unscharf bleibt, entstehen in Krisen stets auch spontane, neue Formen von solidarischem Handeln „von unten“. Während der Coronapandemie haben Menschen in ihren Kiezen Einkaufshilfen organisiert, zahlreiche Freiwillige haben an den Berliner Bahnhöfen geflüchteten Menschen aus der Ukraine geholfen und vielerorts setzen sich Klimaaktivist:innen für einen anderen Umgang mit Umwelt und Ressourcen ein.
Solidarität ist vielfältig. Was der Begriff bedeutet, wie Solidarität in einer diversen Gesellschaft gelebt und gestaltet wird und wie sie uns verändert, untersucht seit 2020 ein interdisziplinäres Forscher:innen-Team im Projekt „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ – am Beispiel der globalisierten und vernetzten Stadtgesellschaft Berlins. Zweiundzwanzig Wissenschaftler:innen der Freien Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischen Universität Berlin und der Charité untersuchen in den Feldern Arbeit, Wohnen und Gesundheit in explorativen Fallstudien solidarische Praktiken und Infrastrukturen. Dabei wollen sie gleichzeitig auch ein neues theoretisches Verständnis für diesen vagen Begriff finden. Das Forschungsprojekt ist eines der sechs „Exploration Projects“, die im Rahmen der Grand Challenge Social Cohesion von der Berlin University Alliance (BUA) gefördert werden und Lösungsansätze für gerechte und stabile Gesellschaften aufzeigen sollen.
„Kliniken spiegeln die Stadtgesellschaft wider.“
Eine der Forscher:innen im Projekt ist die Psychologin Dr. Asita Behzadi. Sie begleitet in der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie an der Charité schwerstkranke und sterbende Menschen und ihre Angehörigen. In der Klinik auf dem Campus Virchow-Klinikum im Wedding erlebt sie die Herausforderungen der Palliativversorgung einer migrantischen und diversen Gesellschaft.
„Menschen ohne Krankenversicherung, Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder Menschen, die sich im Gesundheitswesen nicht zurechtfinden und dadurch einen erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben, tauchen im Krankenhaus als Ort der Akutbehandlung auf. Studien zeigen, dass Patient:innen in den Rettungsstellen – und anschließend in allen Stationen eines Krankenhauses – die gesamte Stadtgesellschaft widerspiegeln. Ärzt:innen und Pflegende erleben hier die Grenzen des vorgeblich solidarischen Gesundheitswesens“, erklärt Asita Behzadi. Gemeinsam mit Prof. Dr. Ulrike Kluge, Leiterin des Zentrums für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie (ZIPP) und des Forschungsbereichs Interkulturelle Migrations- und Versorgungsforschung, Sozialpsychiatrie möchte Asita Behzadi untersuchen, wie solidarische Praktiken in der Gesundheitsversorgung einer Migrationsgesellschaft gestaltet werden können und welche Konfliktlinien sichtbar werden. Eines der Ziele ihrer Arbeit ist es, zu analysieren, welche staatlichen oder nicht staatlichen Infrastrukturen zukünftig benötigt werden, um eine hochwertige Gesundheitsversorgung für alle Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Denn während Hightech-Medizin und Digitalisierung in den Fokus der Gesundheitsversorgung rücken, zeigt sich, dass sich manche Menschen oder gesellschaftliche Gruppen auch in Berlin nicht im Gesundheitssystem wiederfinden und keine angemessene medizinische Grundversorgung erhalten.
„Unsere bisherigen Studien belegen beispielsweise, dass unzureichende Deutschkenntnisse weiterhin eine zentrale Zugangsbarriere zur Gesundheitsversorgung sind. Denn Dolmetschleistungen sind im deutschen Gesundheitssystem mit wenigen Ausnahmen nicht abrechenbar, womit das Solidarprinzip der Gesundheitsversorgung infrage steht“, sagt Ulrike Kluge.
Berlins Labore der Solidarität
Asita Behzadis Arbeit zwischen Klinik und Forschung passt gut zu dem Forschungsansatz des Projekts. Denn auf der einen Seite setzen sich Philosoph:innen und Soziolog:innen wie Prof. Dr. Robin Celikates von der Freien Universität Berlin oder Prof. Dr. Sabine Hark vom Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin, theoretisch und kritisch mit der Geschichte und der Idee von Solidarität auseinander. Dabei nehmen sie migrantische, postkoloniale, feministische und queere Positionen in den Blick. Gleichzeitig gehen Forschende in die Stadtgesellschaft und arbeiten explorativ mit Projekten und Initiativen zusammen, die Formen solidarischen Zusammenlebens ausprobieren. Mit einem inter- und transdisziplinären Ansatz hat sich „Transforming Solidarities“ damit eine Übersetzung zwischen Theorie und Praxis vorgenommen.
Im Bereich Wohnen zum Beispiel untersuchen Architekt:innen und Stadtplaner:innen der Technischen Universität Berlin gemeinsam mit der Initiative „Stadt von Unten“, wie gemeinschaftliche Stadtplanung funktionieren kann. Wissenschaftler:innen des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin um Prof. Dr. Manuela Bojadžijev untersuchen wiederum im Feld der Arbeit, welche neue Formen von Organisationen sich unter flexibilisierten, prekären und digitalisierten Arbeitsbedingungen entwickelt haben. Und im Feld Gesundheit arbeiten Asita Behzadi und Ulrike Kluge unter anderem mit dem Gesundheitskollektiv Neukölln zusammen, einem selbstverwaltetem Gesundheitszentrum, das eine gemeinwohlorientierte Gesundheitsversorgung im Rollbergkiez organisiert, einem Kiez mit einem großen Anteil einkommensarmer Anwohner:innen. Dabei entstehen Fallstudien, die die Forscher:innen mit aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen verzahnen und auf ihre Skalierbarkeit prüfen.
Gesellschaft und Wissenschaft: voneinander lernen
Bei der Zusammenarbeit mit nicht akademischen oder aktivistischen Partner:innen ist für Asita Behzadi der Austausch auf Augenhöhe wichtig: „Diejenigen, die solidarische Praxis leben und gestalten, befragen wir nicht einfach nur. Wir sehen sie vielmehr als Koproduzenten des Wissens für ein neues Verständnis von Solidarität.“ Die Wissenschaft lernt so von und mit der Berliner Stadtgesellschaft. Für Asita Behzadis Forschung sind beispielsweise die Anamnesebögen, die die Ärzt:innen im Gesundheitszentrum Neukölln verwenden, interessant. Neben den üblichen medizinischen Fragen werden die Patient:innen auch zu ihrer Wohnsituation, ihrer Arbeit und ihren psychosozialen Ressourcen befragt. Mit dem Wissen über die Lebenssituationen ihrer Patient:innen kann das Team aus Mediziner:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen eine Gesundheitsversorgung anbieten, die über eine punktuelle Behandlung hinausgeht. Denn eines zeigt sich in allen Untersuchungen zum Zusammenhang von Armut und Gesundheit: Eine Gesundheitsversorgung, die psychosoziale, sozialrechtliche und gesamtgesellschaftliche Problemlagen nicht mit in den Blick nimmt, verfehlt die Ursachen eingeschränkten Wohlbefindens. Für eine gerechte Gesundheitsversorgung müssen daher Verhaltensprävention und Prävention der Lebensverhältnisse stärker verzahnt werden.
Das zeigt, wie eng die zentralen gesellschaftlichen Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Gesundheit zusammenhängen. „Eine der ersten spannenden Erkenntnisse für uns war, dass sich in Berlin gesellschaftliche Bündnisse aus verschiedenen Bereichen miteinander solidarisieren. Initiativen aus dem Feld Arbeit, Pflegende und medizinisches Personal aus dem Feld Gesundheit, Aktivist:innen aus dem Feld Wohnen und diverse zivilgesellschaftliche Gruppen und Einzelpersonen vernetzten sich miteinander und unterstützen sich bei Demos und Kampagnen. Daher trennen wir auch in unserem Projekt die drei Bereiche nicht, sondern blicken vielmehr inter- und transdisziplinär auf unsere Explorationen“, erläutert Asita Behzadi die Zusammenarbeit.
In einem nächsten Schritt ist ein intensiverer Austausch zwischen den Projektpartner:innen aus der Berliner Stadtgesellschaft, den Forschenden der BUA-Partner:innen und internationalen Wissenschaftler:innen geplant. Dafür organisiert das Projekt transdisziplinäre Netzwerktreffen, eine Summerschool und mehrere Lecture Series: Im Wintersemester 2022/23 findet an der FU Berlin eine Lecture Series zum Thema „Transforming Solidarities“ und an der Charité zum Thema „Translation in Medicine“ statt.