Die Tischgesellschaft
Interview mit Dr. Dr. Martina Schäfer von der TU Berlin
29.09.2022
In ihrer Grand-Challenge-Initiative widmet sich die Berlin University Alliance der Diskussion um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Exploration Project „Social Cohesion, Food & Health – Inclusive Food System Transitions“ geht es um die Frage, welche Aspekte sozialen Zusammenhalts eine Rolle spielen für den notwendigen Wandel des Ernährungssystems. Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer von der Technischen Universität Berlin ist eine der drei Koordinator*innen. Wir sprechen mit ihr über Bürger*innen-Aktiengesellschaften für ökologisch-soziale Produkte und Dienstleistungen, Studien zum Mittagessen an Berliner Sekundarschulen und mögliche Zukunftsszenarien für 2040.
Essen hält Leib und Seele zusammen, sagt man. Gilt das auch für Gesellschaften, Frau Schäfer?
Ja, natürlich. Man zeigt ja mit dem, was man isst, auch ein Stück weit, wer man ist. Leiste ich mir teure Restaurants oder bin ich eher der bodenständige Typ? Gehe ich auf den Wochenmarkt und koche selber oder stehe ich auf Fast Food? Da wir oft nicht alleine, sondern in Gruppen essen, und sei es am Familien- oder WG-Esstisch, definieren wir über das Essen auch eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit. Gleichzeitig grenzen wir uns so auch gegenüber anderen ab.
Wie etwa die scharfen Proteste gegen den „Veggie-Day“ der Grünen vor der Bundestagswahl 2013 gezeigt haben …
… und inzwischen gibt es den in vielen Kantinen und keinen stört es mehr. Aber tatsächlich: Essen ist wesentlich körperlicher, sinnlicher als die meisten anderen Arten des Konsumierens. Wir nehmen etwas in uns auf. Wenn die Menschen da die Befürchtung haben, in diesen sehr privaten Bereich will uns der Staat jetzt auch noch reinreden, kann es zu heftigen Abwehrreaktionen kommen.
Das Forschungsprojekt mit dem deutschen Titel „Inklusiver Wandel des Ernährungssystems – nachhaltig, gesund, gemeinsam“ untersucht nun gerade die gesellschaftlichen Folgen von Veränderungen im Bereich Landwirtschaft und Ernährung. Was haben Sie bisher herausgefunden?
Wir sind momentan ungefähr bei der Hälfte der dreijährigen Laufzeit des Projekts. Im Mittelpunkt stehen bei uns sechs Fallstudien, in denen wir exemplarisch ganz verschiedene Veränderungsprozesse untersuchen. Da geht es etwa um die Folgen einer stärkeren Vermarktung von bisher wenig genutzten Gemüsesorten in Afrika. Wir schauen uns an, wie sich die gestiegenen Preise auf das Miteinander der Menschen auswirken und wie damit umgegangen wird. Oder wir erforschen, welchen Einfluss die sozialen Netzwerke von Menschen haben, wenn diese ihre Ernährung umstellen wollen. Auch technologische Innovationen nehmen wir unter die Lupe, etwa bei der Herstellung von künstlichem Fleisch. Da stellt sich beispielsweise die Frage, ob vegan lebende Menschen künstliches Fleisch aus tierischen Zellkulturen essen würden, oder ob sie nur bei pflanzenbasierten Zutaten zugreifen würden. Auch hier kann der Zusammenhalt von Gruppen eine große Rolle spielen.
Das klingt fast so, als würden Sie wie eine Unternehmensberatung arbeiten …
Unser Anspruch ist tatsächlich, dass die Organisationen, mit denen wir in den Fallstudien zusammenarbeiten, ganz konkret von unserer Forschung profitieren. Aber wir wollen am Ende natürlich aus diesen Ergebnissen auch größere Zusammenhänge ableiten. Denn nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch aufgrund anderer Probleme in der Landwirtschaft und bei der Qualität unserer Ernährung wird es in Zukunft einschneidende Veränderungen geben müssen – vom Acker über die Verarbeitung, den Handel bis hin zum Konsum. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen:
Erste Ergebnisse kann ich Ihnen aus meinem Bereich zum Beispiel von unserer Studie zu den sogenannten Regionalwert-AGs nennen.
AG steht dabei für Aktiengesellschaft?
Ja, tatsächlich. Allerdings sind diese AGs nicht börsennotiert, sondern Bürger*innen-Aktiengesellschaften. Jede*r kann Anteile ab 500 Euro kaufen und investiert damit in ihrer oder seiner Region in die ökologische Lebensmittelwertschöpfungskette – in Bio-Bauernhöfe, Lebensmittelhandwerk, Handel und Gastronomie. Diese Unternehmen verpflichten sich, sozial und ökologisch zu arbeiten und sich zu vernetzen, also Produkte und Dienstleistungen untereinander auszutauschen. Die Aktionär*innen können sich dann über gute Produkte aus einer lebenswerten Region mit Arbeits- und Ausbildungsplätzen freuen und im Idealfall über eine kleine Dividende. So die Idee.
Und geht das auf?
Bisher schon, es konnten in den letzten vier Jahren über 1.000 Aktionär*innen gewonnen werden, die in Aktien im Wert von knapp 3 Millionen Euro investiert haben. Aber uns interessiert dieses Projekt vor allem, weil es ja ein Paradebeispiel für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist: Die Konsument*innen beteiligen sich ganz direkt an der Agrar- und Ernährungswende. Die Regionalwert-AG Berlin-Brandenburg wiederum war daran interessiert, etwas über ihre Aktionär*innen zu erfahren. Inzwischen wissen wir aus Befragungen, dass diese überwiegend männlich sind, über 50, mit hohem Einkommen und Bildungsgrad. Menschen mit einem migrantischen Hintergrund sind kaum dabei, und nur etwas über ein Drittel sind Frauen.
Vermutlich weil sich traditionell in vielen Haushalten immer noch die Männer ums Geld kümmern.
Das könnte man denken. Und vielleicht haben Sie sich gerade auch gedacht, warum man für solche trivialen Erkenntnisse nun unbedingt sozialwissenschaftliche Forschung braucht (lacht). Aber bei der Regionalwert-AG im Rheinland ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ausgeglichen. Tja … Könnte das daran liegen, dass im Rheinland eine Frau Vorständin der AG ist, in Berlin-Brandenburg zwei Männer? Das ist bisher nur eine These. Jedenfalls weiß nun unsere Regionalwert-AG, dass es sich lohnen würde, Frauen gezielter anzusprechen, um sie als Aktionärinnen zu gewinnen. Ob sie sich auch insgesamt gesellschaftlich inklusiver aufstellen will und den Anteil von Menschen mit geringerem Einkommen oder Migrationshintergrund erhöhen, wird nun ebenfalls diskutiert.
Geht der Zusammenhalt der Menschen in den Regionalwert-AGs so weit, dass die Aktionär*innen zum Beispiel am Wochenende bei der Ernte helfen oder ähnliches?
Nein, das ist ein weiterer interessanter Punkt. Die Vernetzung geht längst nicht so weit wie bei der „Solidarischen Landwirtschaft“, bei der Haushalte und Erzeuger*innen einen eigenen Wirtschaftskreislauf bilden, der von allen gemeinsam organisiert und finanziert wird. Bei den Regionalwert-AGs werden aber zum Beispiel Exkursionen zu den Betrieben gerne angenommen und diese stärken auch die Verbundenheit mit den Partnerbetrieben.
Vermutlich hätten viele solcher Initiativen den Bedarf, mehr über ihre Mitglieder zu erfahren.
Und oft nicht die Mittel, professionell durchgeführte repräsentative Befragungen zu beauftragen. Der Mangel an solchem Wissen betrifft aber auch die öffentliche Hand. Wir haben in einer der sechs Fallstudien beispielsweise eine Befragung an 25 Berliner Sekundarschulen durchgeführt, warum die Schüler*innen am Mittagessen teilnehmen – oder eben meistens nicht teilnehmen. Insgesamt haben etwas über 3.000 Schüler*innen bei der Befragung mitgemacht. Wer das Mittagessen wahrnimmt und was die Gründe dafür sind, sich anders zu verpflegen, war bisher ungenügend bekannt. Unsere
Kooperationspartner*innen – die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und die Berliner Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung – haben sich daher eine quantitative Befragung gewünscht. Wer geht mit wem essen, essen Schüler*innen gar im Klassenverband, sind die Lehrkräfte mit dabei? Wird der Speiseraum als angenehm empfunden oder ist er zu laut oder zu eng? Können die Schüler*innen Feedback zum Schulessen geben oder den Speiseraum mitgestalten? All das beeinflusst die Akzeptanz. Gerade Mitte September haben wir nun einen Workshop organisiert, in dem sich die Schulen über ihre Erfahrungen austauschen und voneinander lernen konnten, wie sie ihre Schulverpflegung verbessern können.
Auch mit dem Brandenburger Bauernverband untersuchen wir Fragen des Zusammenhalts. Der hat sich 2020 ein neues Leitbild für 2030 gegeben mit einer stärkeren Schwerpunktsetzung auf regionale Wertschöpfungsketten. Wir schauen jetzt darauf, wie so ein Leitbild in die Praxis umgesetzt wird. Wer identifiziert sich warum mit so einem Leitbild, wer nicht? Fühlen sich die Landwirt*innen ausreichend mitgenommen und von der Politik unterstützt oder mit den neuen Anforderungen alleingelassen?
Sie sprachen vorhin davon, dass Sie aus diesen vielen Einzelergebnissen größere Zusammenhänge ableiten wollen. Wie kann das gehen bei so unterschiedlichen Projekten?
Ein Weg, um ein zusammenhängendes Bild zum Beispiel an Politiker*innen zu kommunizieren, werden vier mögliche Zukunftsszenarien sein, an denen wir bereits arbeiten. Sie sind auf das Jahr 2040 bezogen und zeigen unterschiedliche Entwicklungspfade auf. In einem kommt es zu einer Renaturierung der Ökosysteme, einer Regionalisierung und der Wiederentdeckung alter Arbeitstechniken. In einem anderen stehen technische und digitale Innovationen im Vordergrund, die zu einem Wandel führen. Im dritten Szenario arbeiten wir heraus, wie Krisen und Konflikte neben allen Unsicherheiten auch neue Möglichkeiten eröffnen könnten und neuen Ideen eine Chance geben. Das vierte Szenario führt die Folgen eines „business as usual“ vor Augen. Die Szenarien bieten eine Grundlage, um darüber diskutieren zu können, wie Innovationen für den Wandel des Ernährungssystems mit Aspekten sozialen Zusammenhalts zusammenhängen. Dies werden wir beispielsweise im Rahmen eines am 14. Oktober 2022 stattfindenden Trialogs mit Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft tun.
Im inter- und transdisziplinären Forschungsprojekt „Social Cohesion, Food & Health – Inclusive Food System Transitions“ arbeiten Soziolog*innen und Politolog*innen, Mediziner*innen und Psycholog*innen sowie Ingenieur*innen und Naturwissenschaftler*innen zusammen. Diese große Bandbreite macht es möglich, auch komplexe Fragestellungen ganzheitlich zu bearbeiten. Beteiligte Einrichtungen sind die Freie Universität Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin, die Technische Universität Berlin sowie die Charité – Universitätsmedizin Berlin und das Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau (IGZ) in Großbeeren. Um eine hohe Wirksamkeit in der Region Berlin-Brandenburg zu erzielen, wird eng mit Praxisakteuren aus verschiedenen Bereichen (Verwaltung, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Verbände) kooperiert. Mehr: www.ifst-berlin.de
Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer hat in Stuttgart-Hohenheim Biologie studiert und an der TU Berlin in Umwelttechnik und Soziologie promoviert. Seit 2010 ist sie Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrums Technik und Gesellschaft. Seit dem Beginn ihrer Tätigkeit am ZTG im Jahr 1996 hat sie zahlreiche inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekte im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung durchgeführt und geleitet. Ihre Forschungsinteressen sind Nachhaltige Regionalentwicklung, Nachhaltiger Konsum, Nachhaltige Landnutzung und Methoden inter- und transdisziplinärer Forschung. Derzeit ist sie als Expertin im Zukunftskreis tätig, der das Bundesforschungsministerium im aktuellen Foresight-Prozess berät. Vita und Publikationen.