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Social Cohesion – Ein Begriff zwischen Gemeinsamkeit und Differenz

Die BUA und die Alexander von Humboldt-Stiftung beschäftigen sich mit dem Thema „sozialer Zusammenhalt“. Ein Gespräch mit den beiden wissenschaftlichen Leiterinnen.

26.09.2022

Social Cohesion liegt interdisziplinär zwischen Fachgebieten wie Migrationsforschung, Städteplanung, Soziologie, Politikwissenschaft oder Gender Studies.

Social Cohesion liegt interdisziplinär zwischen Fachgebieten wie Migrationsforschung, Städteplanung, Soziologie, Politikwissenschaft oder Gender Studies.
Bildquelle: Forschungsatlas Sozialer Zusammenhalt

Horizontales und vertikales Vertrauen, also Vertrauen in die Mitmenschen und in das System, in dem man lebt: so versucht Soziologin Cynthia Miller-Idriss das zurzeit vieldiskutierte Forschungsfeld Social Cohesion zu definieren. Die Professorin ist als Gast des Humboldt Residency-Programms der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin. Sie hat die kreative Leitung für den ersten Jahrgang des Residency-Programms inne, in welchem sich Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Künstler*innen mit dem Thema „sozialer Zusammenhalt“ befassen.

Seit April dieses Jahres tauscht sich die Pilot-Kohorte des Humboldt Residency-Programms aus, erst digital und im Sommer 2022 zwei Monate vor Ort. Flankiert wird die interdisziplinäre Arbeit durch Gespräche mit wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Berlin, öffentliche Veranstaltungen sowie verschiedene Formate der Wissenschaftskommunikation. Wiederkehrendes Thema sei dabei der Versuch einer Begriffsdefinition von Social Cohesion, resümiert Cynthia Miller-Idriss: „Vertrauen, Zugehörigkeitsgefühl, Bewusstsein für ein gemeinsames Ziel, das man als Gesellschaft erreichen will“, seien zentrale Aspekte.

„Wir arbeiten oft mit dem deutschen Begriff ‚sozialer Zusammenhalt‘, denn bei Kohäsion denken viele daran, dass hier etwas vereinheitlicht werden soll“, sagt Martina Löw, Professorin für Architektur- und Planungssoziologie an der Technischen Universität Berlin, Sprecherin der Grand Challenge Initiative Social Cohesion und Mitglied des Grand Challenge-Gremiums. Die Berlin University Alliance (BUA) unterstützt seit 2019 die Spitzenforschung im Themenfeld Social Cohesion im Rahmen der globalen gesellschaftlichen Herausforderungen – Grand Challenges –, denen sich der Universitätsverbund interdisziplinär widmet. Zunächst brachte die BUA 55 Projekte, die in einem Pre-Call ausgewählt wurden, zusammen, damit diese sich vernetzen und ihren Forschungsfokus vertiefen konnten. 2020 folgte der Main Call, die im Auswahlprozess erfolgreichen sechs Arbeitsgruppen und ihre Exploration Projects werden nun für drei Jahre von den Verbunduniversitäten gefördert.

„Zusammenhalt ist nur denkbar, wenn Unterschiedlichkeiten akzeptiert werden“, diese Herangehensweise finden wir in allen sechs Projekten, betont Martina Löw. Demokratische Gesellschaften seien von Differenzen durchzogen, dennoch sei ein konstruktives Zusammenleben möglich. Das System müsse dabei aber zu einem gewissen Grad beweglich bleiben, damit es Freiräume für Veränderung gibt, für Widersprüche, für Heterogenität, argumentiert die Soziologin.

Wie kann eine Gesellschaft sozial verbunden sein und doch ihre Vielfalt bewahren? Die Soziologinnen Martina Löw (links) und Cynthia Miller-Idriss beschäftigen sich mit dem Forschungsfeld Social Cohesion.

Wie kann eine Gesellschaft sozial verbunden sein und doch ihre Vielfalt bewahren? Die Soziologinnen Martina Löw (links) und Cynthia Miller-Idriss beschäftigen sich mit dem Forschungsfeld Social Cohesion.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Im Humboldt Residency-Programm hätten sie auch viel darüber diskutiert, dass Social Cohesion nicht instrumentalisiert werden dürfe, ergänzt Cynthia Miller-Idriss – etwa von einem Staat, der eine homogene Gesellschaft erschaffen wolle. Die Soziologin nennt ein Beispiel: Nach den An-schlägen des 11. Septembers 2001 habe in England ein einseitiges politisches Verständnis von Integration dominiert: Die muslimischen Mitbürger*innen sollten sich an die Mehrheitsgesell-schaft anpassen, dafür startete die Regierung spezielle Community Cohesion-Projekte. Als Ext-remismusforscherin leitet Cynthia Miller-Idriss das Forschungslabor Polarization and Extremism Research and Innovation Lab (PERIL) an der American University in Washington, D.C. In diesem Rahmen begegne ihr ebenfalls eine negativ verstandene Form des sozialen Zusammenhalts: „In radikalen Gruppen gibt es ein starkes Zugehörigkeitsgefühl, das etwa in gemeinsamer Ausländer-feindlichkeit begründet ist“, sagt sie.

Die vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten des Begriffs Social Cohesion beschäftige die Arbeitsgruppen auch immer wieder, wenn die sechs Exploration Projects der BUA zusammenkämen, berichtet Martina Löw. „Es geht zunächst um einen Forschungsfokus, zwar mit der Perspektive, attraktive Lebensbedingungen zu schaffen, aber trotzdem mit einer empirischen Offenheit.“ Das Erkundungsprojekt Social cohesion, food and health. Inclusive food system transitions analysiere beispielsweise den Einfluss des Zugangs zu gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln auf die soziale Kohäsion sowie Essen als Teil sozialer Identitäten. Dieses sei mit anderen Fragen konfrontiert als etwa die Arbeitsgruppe Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft, die Berlin als ‚Labor‘ für Solidaritätsforschung nutzte, so Martina Löw. „Können die Forschenden also mit dem gleichen Verständnis von sozialer Kohäsion arbeiten? Müssen sie unterschiedliche Definitionen nutzen, um produktiv zu sein?“, fragt sich die Sprecherin der Grand Challenge.

An der Schnittstelle von Sozial-, Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften gelegen, ließen sich verschiedenste Forschungsgegenstände unter der Linse der Social Cohesion betrachten, ist sich Martina Löw sicher. Es sei lohnend, etwa die politische Situation in den USA in den Fokus der Social Cohesion-Forschung zu rücken, meint die gebürtige Amerikanerin Cynthia Miller-Idriss. „In den Staaten gibt es eine tiefe gesellschaftliche Polarisierung: Wir stellen in Umfragen fest, dass die Wähler*innen der Demokraten und Republikaner in den Anhänger*innen der jeweils anderen Partei sozusagen das personifizierte Böse sehen.“ Das berge ein hohes Risiko für politische Gewalt, wenn eine quasi enthumanisierte Vorstellung der Mitbürger*innen vorherrsche, unterstreicht die Extremismusexpertin. Mithilfe akademischer Studien könne man untersuchen, wodurch sich Amerikaner*innen radikalisieren, beziehungsweise, welche präventiven Maßnahmen zu mehr gegenseitigem Verständnis zwischen den Wählergruppen beitragen.

Für Deutschland sei die postkoloniale Social Cohesion-Thematik momentan besonders relevant, findet Martina Löw. Auch, wenn die aktive koloniale Vergangenheit nur vergleichsweise kurz gewesen sei, seien bekannterweise zahlreiche Straßen und Plätze noch nach Militärs der Kolonialzeit benannt, Denkmäler verherrlichten die koloniale Vergangenheit. Es habe viele Konflikte um das neu errichtete Humboldt-Forum und die Ausstellung einer sowieso politisch belasteten ethnologischen Sammlung an einem Ort gegeben, der zu einem gewissen Grad das Preußentum glorifiziere. „Aber die postkolonialen Debatten werden jetzt öffentlichkeitswirksam geführt und auch das sind Diskussionen um soziale Kohäsion – um die Zukunft unserer Gesellschaft und Kultur“, erläutert die Soziologin. Das Exploration Project der BUA zum Thema Museums and Society – Mapping the Social beschäftigt sich ebenfalls mit dem Forschungsschwerpunkt „Museen als Orte der Integration“ und fragt: Warum gehen Menschen ins Museum? Wer fühlt sich angesprochen, wer ausgeschlossen?

Die Berlin University Alliance und Alexander von Humboldt-Stiftung sind in regem Austausch zum Thema Social Cohesion.

Die Berlin University Alliance und Alexander von Humboldt-Stiftung sind in regem Austausch zum Thema Social Cohesion.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

„Wir sind aus zehn verschiedenen Ländern zu Gast beim Humboldt Residency-Programm“, erzählt Cynthia Miller-Idriss, „aus Chile, Tschechien, Großbritannien, Indien, Israel, Slowenien, Schweden, Südafrika, den Vereinigten Staaten und Deutschland“. Dies sei eine großartige Chance, aus verschiedenen Blickwinkeln Social Cohesion zu diskutieren. Ihre Kohorte sei zudem aus Personen aus verschiedenen akademischen Disziplinen und praktischen Arbeitsfeldern zusammengesetzt, darunter Journalist*innen, Filmemacher*innen, Philosoph*innen, Historiker*innen, Jurist*innen und Poet*innen. Man treffe sich von völlig unterschiedlichen Richtungen aus auf der „gemeinsamen Ebene Social Cohesion“ und ginge dann wieder auseinander, um Essays zu publizieren, Videos, Blogartikel oder Gedichte. „Kreative haben ein anderes Verständnis, wie die Gesellschaft in unsere Forschungsergebnisse einbezogen werden kann als wir Akademiker*innen“, lobt Cynthia Miller-Idriss die transdisziplinäre Herangehensweise. Ein gemeinsamer Social Cohesion-Podcast sei in Planung.

Die Zusammenarbeit mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft sieht auch Martina Löw als große Chance bei den Grand Challenges der BUA. „An diesen Projekten sind viele Disziplinen beteiligt, die einen Fuß in der Praxis haben, wie Architektur, Stadtplanung oder Medizin.“ Zusätzliche gäbe es Kooperationen, etwa mit Museen, Künstler*innen oder Sozialarbeiter*innen. Spannend und ungewöhnlich sei beispielsweise das Projekt zu empirischer juristischer Forschung der Arbeitsgruppe The Laws of Social Cohesion (LSC) – Zur Bedeutung des Rechts für die demokratische Gestaltung sozialen Zusammenhalts, unterstreicht die Professorin. Obwohl Jura generell ein äußerst eigenständiges Forschungsfeld sei, gäbe es hier nun rege Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder Rechtsanwaltskanzleien zu Fragen wie: Welche Gesetze fördern oder stören den sozialen Zusammenhalt? Wo sind die Grenzen der Integrationsfähigkeit unseres Rechtssystems?

Nicht nur interdisziplinär, sondern auch intersektional zu denken, sehen die beiden Soziologinnen als globalen Trend in der Social Cohesion-Forschung. „Dimensionen wie Klasse, Geschlecht und Ethnizität zu verknüpfen, ist auch im Forschungsfeld der sozialen Kohäsion der Zeitgeist“, konstatiert Martina Löw. Vor allem seit der Geburt der Black Lives Matter-Bewegung seien Ethnizitätsfragen zentral für die Debatten um sozialen Zusammenhalt, stimmt Cynthia Miller-Idriss zu. Alter- und (Dis-)Ability, also die Zugänglichkeit der Gesellschaft für ältere Menschen oder Personen mit Behinderungen, seien weitere Aspekte, die die Forschenden weltweit immer stärker interessiere, sagt die Soziologin. Landflucht und zunehmende Verstädterung in den meisten Ländern seien weitere Fokusthemen, fügt Martina Löw hinzu.

Ist es Zufall, dass sich in Berlin mehrere große Forschungsinstitutionen mit sozialem Zusammenhalt beschäftigen? Architektursoziologin Martina Löw ist sich sicher, die deutsche Hauptstadt habe für diesen Forschungsschwerpunkt besonderes Potenzial: „Die Grundannahme der Berliner*innen ist: Hier gibt es nichts Gemeinsames.“ Es scheine also, als definierten sich die Einwohner*innen über ihre Differenz, stellt die Professorin fest und vermutet, dies liege unter anderem noch an der früheren Parallelgesellschaft von Arbeitern und Beamten und der späteren Teilung der Stadt. „Die Unterschiedlichkeiten anzuerkennen und sich dennoch als Einheit, als Berliner*innen zu fühlen, darin liegt eine große gesellschaftliche Chance – und ist als multikulturelles Forschungsobjekt natürlich sehr interessant.“

Schlagwörter

  • Forschung
  • Interdisziplinarität
  • Social Cohesion