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Herausfordernde Zeiten

Ein Symposium der Oxford Berlin Research Partnership blickte auf die Rolle von Wissenschaftler*innen in Zeiten von Konflikten, Fake News und Polarisierung

03.08.2022

Das Team der Oxford Berlin Research Partnership

Das Team der Oxford Berlin Research Partnership
Bildquelle: Michael Fahrig

„Ich liebe das Wort ‚Wissenschaft‘. Es verbindet uns alle: Forschende, Künstler*innen, Studierende, Engagierte des öffentlichen Lebens – wir alle lieben es, zu schaffen und kreativ zu werden“, erklärte Çiğdem İşsever auf dem Symposium „Academics in the Public Sphere: Navigating the Political“. Die Wahlberlinerin hat 15 Jahre lang in Oxford geforscht und gelehrt und leitet gemeinsam mit Andrew Hurrell die Oxford Berlin Research Partnership. So konnte die promovierte Physikerin zur Begrüßung aus ganz persönlicher Sicht von beiden Städten und ihrer Verbindung erzählen. Organisiert wurde die Veranstaltung am 8. und 9. Juli 2022 gemeinsam von der Berlin University Alliance (BUA) und der University of Oxford.

Wissenschaftler*innen und Expert*innen aus Oxford und Berlin haben sich in der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Mitte getroffen. Zwei Tage lang drehte sich alles um die Herausforderungen, vor denen Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit stehen. Wie lassen sich Fakten in Zeiten von politischer Polarisierung kommunizieren? Welche Rolle spielen Fake News und Hate Speech in den vielstimmigen Debatten auf den Sozialen Medien? Podiumsdiskussionen und Kurzvorträge standen dabei ebenso auf dem Programm wie Zeit für das gegenseitige Kennenlernen und den Austausch.

Zwischen Fake News und der einen Wahrheit

Viel diskutiert wurde die Rolle von Wahrheit im Zeitalter von Konflikten und Kriegen. Lässt sich Wahrheit eher als Referenzpunkt denn als binäre Unterscheidung zwischen Fake News und Wahrheit verstehen? Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien an der University of Oxford, analysierte in diesem Zusammenhang die Entwicklung des öffentlichen Raums im letzten Jahrzehnt. Er stellte fest, dass wir einerseits unbegrenzten Zugang zu Wissen und Fakten erlangt haben, aber paradoxerweise die Redefreiheit dadurch gelitten hätte. In der öffentlichen Debatte würden sich verschiedene Räume mit unterschiedlichen Ansichten und Fakten herausbilden. Dies sei aber weder eine zwangsläufige Folge der technologischen Entwicklung noch ausschließlich durch die sozialen Medien bedingt. Vielmehr sei es eine Folge einer komplexen Situation aus politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren und der Algorithmen, die nach dem Gesetz der Aufmerksamkeit anstelle von Qualität funktionieren.

Um dem entgegenzuwirken, hob Garton Ash die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hervor, der der politischen Polarisierung vorbeugen würde und daher mit ausreichend Budget ausgestattet werden müsse. „Auch Universitäten spielen eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, wahrheitsgetreue Informationen in einem Zeitalter von Fake News, extremer Polarisierung, Populismus und Fehlinformationen zu finden und zu verbreiten.“ Dieser Rolle könnten sie noch besser gerecht werden, indem digitale und Medienkompetenz stärker in die Lehre eingebunden werden und Wissenschaftler*innen noch präsenter im öffentlichen Raum werden.

Prof. Dr. Rasmus Nielsen knüpfte daran aus seiner Sicht als Leiter des Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford an. Er hob hervor, dass Veränderungen durch uns als Bürger*innen, aber auch als Medien-Nutzer*innen und Konsument*innen entstünden. Wenn fast jede*r digitale und mobile Medienplattformen nutze, hätten unsere Milliarden von individuellen Entscheidungen tiefgreifende, institutionelle Auswirkungen. Traditionelle Verleger*innen würden so zurückgedrängt, stattdessen machten einige wenige US-Konzerne Profite und setzten Standards, entschieden über Verbindungen und Zugang zu strukturierten Informationen. Das zeige, dass auch nicht-politische Einflüsse auf die Medien politische Folgen haben, vor allem für die Demokratie. Deswegen müsse man über neue Wege nachdenken, wie Medien berichten und Menschen erreichen. In der Zeit vor den digitalen Medien hätten die Menschen einen überschaubaren, aber einfacheren Zugang zu gesicherten Informationen gehabt. Andererseits, so Nielsen, würde niemand heute sein Smartphone und seine digitalen Geräte dafür eintauschen wollen.

Künstliche Intelligenz: Utopie oder Dystopie?

Eine lebendige Partnerschaft: Spannender Austausch zwischen den Wissenschaftler*innen aus Oxford und Berlin

Eine lebendige Partnerschaft: Spannender Austausch zwischen den Wissenschaftler*innen aus Oxford und Berlin
Bildquelle: Michael Fahrig

Wie kann Künstliche Intelligenz (KI) sinnvoll eingesetzt werden, um die großen Herausforderungen der Menschheit wie Gesundheitsversorgung, Ernährung oder Bioökonomie zu lösen? Wie kann ein technisches Verständnis von KI einem größeren Publikum vermittelt werden? Ein weiteres Diskussionsthema auf dem Oxford/Berlin-Symposium war das „Leben und Arbeiten mit künstlicher Intelligenz“. Prof. Nigel Shadbolt, Informatiker an der University of Oxford, warf die Frage auf, wie wir unsere Werte an die Möglichkeiten der KI anpassen wollen. „Den Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können wir ohne Künstliche Intelligenz nicht begegnen“, sagte er. Gleichzeitig bedürfe es dafür einer Regulierung und einem praktisch umsetzbaren ethischen Umgang, wenn KI-Systeme in Zukunft zu unseren Vertrauten würden und wenn Menschen beginnen, Rechte und Freiheiten für sie einzufordern.

Ioannis Havoutis vom Oxford Robotics Institute stellte fest, dass Roboter bereits im Dienstleistungssektor, im Gesundheitssystem, in Unternehmen und in Haushalten zu finden sind. Damit hätten sie das Potenzial, Menschen von ungewünschten, gefährlichen oder eintönigen Arbeiten zu befreien. Das führe dazu, dass es in der Zukunft nicht mehr so viele Arbeitsplätze geben werde – ein nicht zu unterschätzendes sozio-politisches Problem, das radikale Lösungen erfordere.

Abigail Williams, Professorin für Englische Literatur an der University of Oxford, erzählte davon, wie sie gemeinsam mit einer englischen Spiele-Firma einen Chatbot für das Theaterstück „Romeo und Julia“ entwickelt hat. Jugendliche können so mit den Figuren des Stückes chatten und fühlten sich stärker von der Handlung mitgenommen. Abigail Williams stellte klar, dass Technologie in ihren Augen ein Werkzeug sei und kein handelndes Subjekt. Künstliche Intelligenz mache gleichzeitig unser Verständnis von Kreativität komplizierter, da auch Authentizität, Humor und Absichten berücksichtigt werden müssten. Statt aber in Künstlicher Intelligenz nur eine Maschine zu sehen, die Imitationen produziert, betonte Williams, dass KI uns Dinge zeigen könne, zu denen wir selbst nicht fähig seien, wie das Computerprogramm Alpha Go, dass 2015 den besten Spieler des chinesischen Brettspiels „Go“ geschlagen hat. Wenn wir KI als Werkzeug betrachten, müssten wir uns allerdings fragen, welche menschlichen Entscheidungen in die Datenbanken und Programmierung einfließen.

Wer findet sich in den Datensätzen wieder? Welche Annahmen treffen wir? Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Michelle Christensen, Professorin an der Technischen Universität Berlin. Sie wies darauf hin, dass Software zur Gesichtserkennung weiterhin Schwierigkeiten bei dunklen Hautfarben hätte. Diskriminierungsmuster, etwa im Gender-Bereich, würden aus der Gesellschaft in Algorithmen und Programmierung übernommen. Michelle Christensen wies auf Kollektive hin, die eine feministische und queere Vision für solche Technologien entwickeln und alternative Server und Netzwerke aufsetzen, die im Sinne der Open Source-Bewegung frei zugänglich sind.

Bei den Diskussionen der Expert*innen aus Oxford und Berlin wurde deutlich, dass auch in der Wissenschafts-Community noch viele Fragen und Bedenken zur ethischen Gestaltung von KI bestehen. Çiğdem İşsever brachte das wie folgt auf den Punkt: „Ich entwickle nützliche Tools, aber ich mache mir Sorgen darüber, dass diese von politischer Seite benutzt werden, um Menschen zu unterdrücken. Was ist meine Verantwortung als Wissenschaftlerin? Können wir Algorithmen entwickeln, die nicht missbraucht werden können?“

Die unterschiedlichen Perspektiven aus Oxford und Berlin ergänzen und inspirieren sich gegenseitig; das haben die zwei Tage voller Diskussionen verdeutlicht – nicht nur bei den Themen Wahrheit und Künstlicher Intelligenz, sondern ebenso bei Wissenschaftskommunikation, bei der Auseinandersetzung mit unserer kolonialen Vergangenheit und bei der Situation der Hochschulen in der Pandemie. Auf dem Symposium sind viele neue Impulse für zukünftige Workshops und Kollaborationen entstanden, die einmal mehr zeigen, dass die Partnerschaft zwischen Oxford und Berlin eine äußerst aktive und lebendige Community mit viel Potenzial für zukünftige Projekte zusammenbringt.

Cigdem Issever, eine der beiden akademischen Leiter*innen der Oxford Berlin Research Partnership

Cigdem Issever, eine der beiden akademischen Leiter*innen der Oxford Berlin Research Partnership
Bildquelle: Michael Fahrig

Prof. Dr. Michel Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ging darauf ein, wie Populist*innen der Demokratie schaden, indem sie Wahrheiten mit verschiedenen Strategien unterwandern, zum Beispiel, indem sie reale Ereignisse nicht als solche anerkennen und damit die Idee von Wahrheit zurückweisen oder indem sie die Kompetenz von Wissenschaftler*innen infrage stellen. Er argumentierte, dass es wichtig sei, das gegenseitige Verhältnis von Wahrheit und Demokratie zu besprechen und zu politisieren. Der Glaube an die Wissenschaft begründe sich auf Bildung, aber auch auf Vertrauen, und das setze voraus, dass die Menschen Aussagen akzeptieren, die sie selbst nicht nachprüfen können.

Welche Rolle können Universitäten und ihre Partner*innen dabei spielen, die digitale und Medienkompetenz der Bürger*innen zu stärken und dadurch die Demokratie zu stützen? Prof. Dr. Christoph Markschies, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft, und Prof. Dr. Anita Traninger, Romanistin an der Freien Universität Berlin leiteten die Podiumsdiskussionen zu diesem Thema. Sie lenkten den Blick in diesem Kontext auf die Oxford Berlin Research Partnership. Garton Ash betonte, dass innerhalb der Wissenschaftskooperation gemeinsam geschaut werden müsse, welche Fragen für die Fragmentierung und Polarisierung des öffentlichen Raums wirklich relevant seien. Wir müssten nicht nur über Fake News sprechen, sondern vielmehr die Wirkweise von Algorithmen hinterfragen und gemeinsam Vorschläge erarbeiten, wie diese optimiert werden sollten – nicht im Hinblick auf die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen, sondern im Hinblick auf die Demokratie.