Berlin4Ukraine
Ein Vernetzungs-Event bringt geflüchtete Forschende zusammen und diskutiert die Möglichkeiten der deutsch-ukrainischen Wissenschaftskooperation
26.07.2022
Etwa 100 Interessierte kamen zu „Berlin4Ukraine: Meet & Learn“ in den Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Bildquelle: Gregor Hofmann/Anja Sommerfeld
„Ich bin zwar physisch in Berlin und körperlich unversehrt, aber all meine Gedanken und Gefühle sind zuhause in der Ukraine“, beschreibt Soziologin Tetiana Kostiuchenko bei der Netzwerk-Veranstaltung „Berlin4Ukraine: Meet & Learn“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Rund 80 geflüchtete Wissenschaftler*innen waren der Einladung unter anderem des Berlin Center for Global Engagement (BCGE) und des außeruniversitären Forschungsverbundes Berlin Research 50 (BR50) gefolgt, die BBAW stellte dafür Räumlichkeiten und Technik zur Verfügung. Sie konnten sich zum Wissenschaftssystem in Deutschland informieren, mit Forschenden sowie Institutionen des Gastlandes in Kontakt kommen und diskutierten über die Möglichkeiten der ukrainisch-deutschen Zusammenarbeit.
„Herausfordernd“, resümiert Tetiana Kostiuchenko beim Panel „Eindrücke von ukrainischen Forschenden“, seien ihre drei Monate in Berlin bisher gewesen. Aufgrund der „emotionalen Spaltung“, der Sorgen um Familie und Freunde in ihrer Heimat und der Unsicherheit, wann sie zurückkehren könne. Das Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS) nahm die Soziologin im März auf, enge Kontakte hat die Wissenschaftlerin auch zum Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Sie sei den deutschen Kolleg*innen sehr dankbar für ihre Solidarität und das Verständnis, wenn sie an manchen Tagen ihr Arbeitspensum nicht schaffe oder es ihr psychisch nicht gut gehe – wie am Vortag, an dem bei einer Bombardierung eines Einkaufszentrums in der Zentralukraine mindestens 16 Zivilist*innen starben.
Herausfordernde Zeiten: Ukrainische Forschende teilen ihre Erlebnisse
Bildquelle: Gregor Hofmann/Anja Sommerfeld
Aufenthalt im Exil als Chance für Vernetzung
Die russische Invasion sei eine Bedrohung für das akademische System und die Wissenschaftsfreiheit in ihrem Heimatland, unterstreicht Tetiana Kostiuchenko, aber auch eine Chance, Ukrainestudien in das Zentrum der Aufmerksamkeit Westeuropas zu rücken: „Im Osteuropa-Institut der Freien Universität planen wir, die Ukraine in den Lehrplan zu integrieren, zunächst mit einem Seminar zum ‚Verständnis der ukrainischen Gesellschaft‘ im Wintersemester“, freut sich die Soziologin. Bisher sei die Ukraine im Ausland eher nur im Kontext Russland, Georgien, Moldau betrachtet worden, dass dies nicht richtig sei, zeige sich nun deutlich.
„Auch, wenn wir nur zwischenzeitlich in Deutschland sind, kann unser Aufenthalt doch nützlich sein“, stimmt ihre Kollegin Olga Kutsenko zu. Die Soziologin hat den Lehrstuhl für Soziale Strukturen und Beziehungen an der National Universität Kiew inne und ist nun an der Technischen Universität Berlin zu Gast. „Ich bezeichne die Ukraine in meiner Forschung als ‚Labor‘ für die moderne europäische Nationalwerdung“, erläutert sie. Die akademische Debatte über die Entwicklung der Demokratie in postsowjetischen Ländern sei in Deutschland sehr ausgeprägt. Es sei für sie deshalb interessant, sich hier einzubringen, etwa im September beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Ihr diesmaliger längerer Aufenthalt in Berlin habe sie in ihrer Ansicht bestärkt, dass es bezüglich des Wertesystems, Lebensstils sowie der Forschungsinteressen große Gemeinsamkeiten zwischen der Ukraine und Deutschland gebe. „Das ist eine starke Basis für Kooperationen zwischen den beiden Ländern“, betont Olga Kutsenko.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Unterschiede gebe es etwa darin, dass die Regularien für Promotionen in Deutschland auf der Ebene der Fakultäten und nicht der gesamten Universitäten definiert werden, wie Oksana Seumenicht feststellt, die ein Gründungsmitglied der Deutsch-Ukrainischen Akademischen Gesellschaft ist. In ihrer Einführung in das deutsche Wissenschaftssystem erläutert die Molekularmedizinerin unter anderem den Zusammenhang zwischen den Universitäten und den Forschungszentren wie Max-Planck oder Helmholtz und stellt Stiftungen sowie andere Finanzierungsmöglichkeiten vor.
Zahlreiche Institutionen wie die Alexander von Humboldt Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) oder die Verbundpartnerinnen der Berlin University Alliance (BUA) informieren den Nachmittag über auch in persönlichen Gesprächen zu ihrem Angebot für Forschende im Exil. Zeit ist auch für Austausch in drei Kleingruppen: Geistes- und Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik sowie Biowissenschaften.
Obwohl die finanzielle Situation an den ukrainischen Hochschulen bereits vor Kriegsbeginn schwach gewesen sei, gebe es viel Forschergeist und Engagement, findet die Promotionsstudentin Taya Kozak aus Kiew. Sie analysiert das Absterben von Zellen bei Herzinfarkten und ist an ihrem Institut beteiligt an einer Studie über den Zusammenhang von Lungenentzündungen und Covidinfektionen. „Ich war sehr orientierungslos, als ich die Universität im März aufgrund der Luftangriffe plötzlich verlassen musste und in mein Heimatdorf zurück bin. Zwei Wochen später erhielt ich einen Anruf vom Betreuer meiner Doktorarbeit, dass unsere gesamte Forschungsgruppe vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie aufgenommen wird“, erzählt die Mikrobiologin. Dass sie mit ihrer Freundin und Kollegin Tetiana Laguta hier sei, mache vieles leichter, beispielsweise die Wohnungssuche auf einer fremden Sprache, von der sie nicht gewusst hätten, dass sie sie je brauchen würden. Aus bürokratischen Gründen sind beide für ein Jahr von ihrer Heimatuniversität beurlaubt. Aber sie überlegten, wie sie ihre Promotion doch in Berlin fortsetzen können, nachdem der Konflikt länger andauere als gedacht.
Diskussionen über die richtige Art von Unterstützung für ukrainische Forschende
Bildquelle: Gregor Hofmann/Anja Sommerfeld
Unterstützung vor Ort und im Gastland
Unterstützen an den richtigen Stellen ohne Talentabwanderung ist das vorwiegende Thema bei der abschließenden Podiumsdiskussion zu langfristigen Perspektiven. Moderiert wird diese von Katharina Bluhm, Professorin für Osteuropasoziologie an der Freien Universität. Männliche Wissenschaftler im Exil sind an diesem Donnerstagnachmittag in Berlin-Mitte wenige anwesend, einer davon ist Leonid Yatsenko, früherer Leiter der National Research Foundation of Ukraine (NRFU), dem Pendant zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Der Professor für Physik berichtet, dass die Ukraine kurz vor einer Wissenschaftsreform gestanden habe, die zur besseren Finanzierung der Universitäten hätte führen können. Dieses Geld sei nun in die Aufrüstung geflossen. Er befürchtet, dass nach Kriegsende wiederum nur die angewandten Wissenschaften wie Bauingenieurwesen oder Architektur gefördert würden. „Fundamentales wie Physik, Mathe oder Biologie könnte dann auf der Strecke bleiben“, gibt Leonid Yatsenko zu bedenken.
Während der Diskussion wird deutlich: Es gibt zahlreiche Ideen für die Unterstützung der Ukraine: 24-monatige Stipendien, die vor Ort in Deutschland beginnen und nach Kriegsende in der Ukraine beendet werden können oder bilaterale Studiengänge. Auch Distanz-Stipendien in Form von non-residential fellowships, um Forschenden vor Ort helfen zu können, sind im Gespräch, ebenso, wie das Öffnen digitaler Bibliotheken und Onlineressourcen für ukrainische Wissenschaftler*innen.
Eine spontane Abstimmung ergibt, dass sich viele Anwesende weiter austauschen wollen und Gregor Hofmann, der Moderator des Netzwerk-Treffens, sichert Folgeveranstaltungen zu.
Jennifer Gaschler