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Die transformative Wirkung der Wissenschaft

Die neue Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, Maria Leptin, hielt im Rahmen der Berlin Science Week ihre erste Rede

06.12.2021

Zu einer besonderen Veranstaltung luden die Berlin University Alliance (BUA) und der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) gemeinsam im Rahmen der Berlin Science Week ein. In ungewöhnlicher und interessanter Umgebung im Polar Bear Room des Berliner Museums für Naturkunde hielt Maria Leptin ihre erste offizielle Ansprache. Erst einige Tage zuvor hatte sie ihr Amt als neue Präsidentin des ERC angetreten. Im Anschluss stellten vier ERC-Geförderte der BUA-Verbundpartnerinnen – Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technische Universität Berlin, Charité – Universitätsmedizin Berlin – ihre Projekte vor.

Sabine Kunst, Sprecherin der BUA und Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin, hieß die Sprecherinnen und Sprecher sowie Zuschauerinnen und Zuschauer willkommen und betonte die herausragende Stellung von Grundlagenforschung und die prominente Rolle, die der Europäische Forschungsrat dabei spiele. Auch für die „third mission“ der Universitäten, das Wirken mit und für die Gesellschaft, sei Grundlagenforschung zentral, was in dieser Veranstaltung wie an vielen anderen Stellen immer wieder betont werden müsse.

Prof. Dr. Maria Leptin, Präsidentin des Europäischen Forschungsrats

Prof. Dr. Maria Leptin, Präsidentin des Europäischen Forschungsrats
Bildquelle: European Research Council

Maria Leptin eröffnete ihre Rede mit der Feststellung, dass die Wissenschaft als Versuch, die Welt zu verstehen, ein lohnendes Unterfangen in sich selbst sei. Mit Bezug auf den Titel der Veranstaltung „The transformative effect of science“ wies sie darauf hin, dass eben dieses Verständnis der Welt es uns ermögliche, die Welt und damit unsere Gesellschaften zu verändern: In der Vergangenheit führte dies zu bislang unvorstellbaren Technologien. Anders als in den Anfängen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts sehen wir heute auch die Gefahren, die in unserem Wissen um die Welt liegen, und müssen die damit verbundene Verantwortung übernehmen. Wissenschaft ist Teil der Lösung der globalen Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Ihr Beitrag beschränkt sich nicht auf die Entwicklung neuer Technologien, sondern umfasst zum Beispiel auch neue Ideen für die Zukunft, wie wir als Menschen leben wollen und werden.

Die ERC-Präsidentin stellte klar, dass Wissenschaft nur unter den Bedingungen der Forschungsfreiheit gedeihen könne – ein Grundsatz, für den der Europäische Forschungsrat steht: Die Unabhängigkeit von politischen Vorschriften und Forderungen steht dabei nicht im Widerspruch zum Beitrag der Grundlagenforschung zur Lösung der Herausforderungen unserer Zeit. Forscherinnen und Forscher teilen das Anliegen und das Bedürfnis nach Lösungen, die Politiker antreiben und auch fordern. Die Forschungsfreiheit sorgt dafür, dass die wissenschaftliche Sicht nicht eingeschränkt, nicht begrenzt wird, weil Problemlösungen – wie im Fall der Corona-Pandemie – aus völlig unerwarteten Bereichen kommen können. Auch neue Technologien und Ideen entstehen aus einer Kombination zuvor entwickelter Erkenntnisse. Wissenschaftliche Forschung ist daher per se unberechenbar, und Fördermechanismen müssen entsprechend reagieren, um den entscheidenden Beitrag der von Neugier getriebenen Forschung und ein gesundes Forschungssystem zu erhalten.

Um diesen Punkt zu betonen, seien die vom ERC geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die besten Botschafterinnen und Botschafter für Grundlagenforschung, betonte Maria Leptin. Ihre vollständige Rede ist auf der ERC-Website nachzulesen.

Vier ERC-Grantees, die jeweils exemplarisch für eine der vier Partnerinnen des Exzellenzverbunds stehen, stellten ihre Projekte in unterhaltsamen und anschaulichen siebenminütigen Vorträgen vor.

„Warum wir über den globalen Wandel und nicht nur über den Klimawandel sprechen sollten.“ Matthias C. Rillig

Prof. Dr. Matthias C. Rillig, Institut für Biologie der Freien Universität Berlin, Direktor des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Biodiversitätsforschung

Prof. Dr. Matthias C. Rillig, Institut für Biologie der Freien Universität Berlin, Direktor des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Biodiversitätsforschung
Bildquelle: Dr. Angelika Wilhelm-Rechmann

Was Bodenbakterien uns über den globalen Wandel lehren können, zeigte der Biologieprofessor Matthias C. Rillig von der Freien Universität Berlin, Direktor des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Biodiversitätsforschung. Damit machte er darauf aufmerksam, warum wir über den globalen Wandel und nicht nur über den Klimawandel sprechen sollten: Fast jede Forschung zu Bodenbakterien arbeitet mit nur einem bis wenigen Einflussfaktoren. Aber neben der Temperatur verändert die Gesellschaft auch den Stickstoffgehalt von Böden, fügt Mikroplastik und invasive Arten oder eine Vielzahl von Schadstoffen hinzu, um nur einige Faktoren zu nennen. Die Frage ist also, was passiert, wenn mehrere Faktoren untersucht werden?

Matthias Rillig hatte erwartet, dass aus der Kombination einer Vielzahl von Möglichkeiten in einem solchen multifaktoriellen Vergleich Chaos entstehen würde – aber nein: Ein überraschend geradliniger Zusammenhang in den Ergebnissen zeigte deutlich, je mehr Faktoren im System aktiv waren, desto mehr Biodiversität und Bodenökosystemfunktionen gingen verloren. Dies ist umso überraschender, als die einzelnen Faktoren positiven, negativen oder gar keinen Einfluss auf Bodenorganismen haben können. Die Kombination der Faktoren führt jedoch zu einem deutlichen und kumulativen Rückgang an Biodiversität.

Obwohl es noch keine bewiesene wissenschaftliche Erklärung hierzu gibt, versuchte der Biologe, es an einem imaginären menschlichen Unterfangen zu erklären: einen Bericht mit Abgabefrist zu verfassen. Ein Nachbar, der zum Feiern mit einer Flasche Wein vorbeikommt, wäre ein positives Ereignis, eine Frage beantworten zu müssen wäre ein neutraler Effekt und ein Web-Zugangsproblem wäre ein negativer Effekt. Alle drei zusammen werden jedoch dazu beitragen, dass die Frist für den Bericht versäumt wird. Bei der Vielzahl von Organismen, die in Böden aktiv sind, ist dies natürlich komplexer, aber die Schlussfolgerung bleibt: Wir können es uns nicht leisten, unsere Sicht ausschließlich auf den Klimawandel zu beschränken, sondern müssen stattdessen über den globalen Wandel sprechen. Mehr Forschung, wie diese erste Zehn-Faktoren-Untersuchung des globalen Wandels, wird erforderlich sein, um herauszufinden, wie die verlorenen ökologischen Funktionen wiederhergestellt werden können.

„Was passiert, wenn Nervenzellen unterschiedliche Persönlichkeiten haben?“ Susanne Schreiber

Prof. Dr. rer. nat. Susanne Schreiber, Professorin für Theoretische Neurophysiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin

Prof. Dr. rer. nat. Susanne Schreiber, Professorin für Theoretische Neurophysiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin
Bildquelle: Dr. Angelika Wilhelm-Rechmann

Die Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn sind maßgeblich für dessen Funktion zuständig. Aber was passiert, wenn Nervenzellen unterschiedliche Persönlichkeiten haben? Dieser Frage ist Susanne Schreiber, Professorin für Theoretische Neurophysiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, in ihrem Vortrag nachgegangen: Zugängliche, empathische Menschen kommunizieren anders als cholerische, gleichgültige. In Nervenzellen funktioniert die Kommunikation durch elektrische Impulse, und tatsächlich unterscheidet die Wissenschaft zwischen „langsamen Startern“, die beim Auslösen mit nur wenigen Impulsen reagieren, „Sprungstartern“, die in intensives Feuer springen, und „Es-kommt-darauf-an-Startern“, die in etwa zwischen den beiden Reaktionen liegen.

Die dritte Variante – auch „homoklinic“ genannt – steht in Susanne Schreibers Forschung im Mittelpunkt. Mathematisch erklärt sie, dass diese Starter im Gehirn vorhanden sein müssen. Die Besonderheit ist, dass sie sofort auf andere Nervenzellen reagieren können – einmal ausgelöst, feuern sie umgehend und intensiv, während die anderen Zellen Zeit brauchen, um auf Geschwindigkeit zu kommen. Warum ist das interessant?

In einem Netzwerk betrachtet, zeigen homokline Nervenzellen eine synchronisierte Aktivität, während die anderen Zellen eine ungeordnete Aktivität zeigen. Dies kann mithilfe eines Elektroenzephalographie-Geräts (EEG) beobachtet werden. Ein weiterer Punkt ist, dass die anderen Nervenzellen sich in homokline Zellen verwandeln können, zum Beispiel durch Temperaturerhöhung, was zu hochrhythmischen Gehirnaktivitäten führt. Damit ist dieses Wissen nicht nur faszinierend, sondern auch praktisch wichtig, denn die rhythmischen Gehirnaktivitäten sind oft mit Hirnerkrankungen wie Epilepsie verbunden.

„Wie können multimodale Erdbeobachtungsdaten abgefragt und indiziert werden?“ Begüm Demir

Begüm Demir, Professorin am Institut für Technische Informatik und Mikroelektronik der Technischen Universität Berlin

Begüm Demir, Professorin am Institut für Technische Informatik und Mikroelektronik der Technischen Universität Berlin
Bildquelle: Dr. Angelika Wilhelm-Rechmann

Wie können Big Data in der Erdbeobachtung gemanagt und maschinelles Lernen genutzt werden, um die explodierende Datenfülle besser zu nutzen, die durch Satelliten und Fernerkundung zur Verfügung steht? Dies untersucht Begüm Demir, Professorin am Institut für Technische Informatik und Mikroelektronik der Technischen Universität Berlin, in ihrem Projekt „BigEarth“.

Die Analyse von Satellitenbildern kann entscheidende Informationen für verschiedene Anwendungen liefern. Zum Beispiel können durch die Beobachtung von Waldgebieten Aussagen über den Zustand des Planeten gemacht werden. Solche Daten sind bereits in Fernerkundungsdatenbanken verfügbar, doch um sie zu identifizieren und nutzbar zu machen, sind skalierbare Ansätze nötig, die mit den komplexen, multimodalen, heterogenen Inhalten der Archive umgehen können. In „Big Earth“ entwickelt Begüm Demir eine Suchmaschine, die genau das kann: mit dem semantischen Inhalt der Satellitendaten operieren. Vor „Big Earth“ basierten Abfragen multimodaler Erdbeobachtungsdaten nur auf Schlüsselwörtern. Der neue Ansatz wird bereits in der Europäischen Weltraumorganisation esa angewendet und verändert das bisherige Paradigma.

Um Zugang zu Trainingsdaten für maschinelles Lernen zu haben, entwickelte Begüm Demir „BigEarthNet“. Das Archiv enthält Daten aus zehn europäischen Ländern. Es ist öffentlich zugänglich und wurde in den zwei Jahren seit seiner Veröffentlichung von vielen renommierten Organisationen heruntergeladen. Außerdem hat Begüm Demir das „BigEarthNet Portal“ entwickelt. Es ermöglicht Nutzerinnen und Nutzern, den Datensatz interaktiv zu visualisieren und das BigEarthNet zu entdecken.

„Patientinnen und Patienten können nicht aufgefordert werden, depressiv zu sein.“ Surjo Soekadar

Prof. Dr. med. Surjo Soekadar, Leiter FB Translation und Neurotechnologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. med. Surjo Soekadar, Leiter FB Translation und Neurotechnologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Bildquelle: Dr. Angelika Wilhelm-Rechmann

Wie Maschinen Menschen helfen, die an einer Erkrankung des Gehirns leiden wie Demenz, Multipler Sklerose oder auch Depression und Angst, zeigte Surjo Soekadar, Leiter FB Translation und Neurotechnologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Mit kurzen Videos aus der Praxis verdeutlichte er anschaulich, dass Neurotechnologien der nächsten Generation die Lebensqualität verbessern und Gehirnfunktionen wieder herstellen könnten: Beispielsweise können bereits Mikroelektroden ins Gehirn implantiert werden, sodass Gehirn-Computer-Schnittstellen die Gehirnaktivität in Steuerbefehle eines digitalen Geräts übersetzen.

Surjo Soekadar konzentriert sich jedoch auf Ansätze, die keine chirurgischen Eingriffe erfordern: Ein neuronales Exoskelett etwa übersetzt die Gehirnaktivität eines Menschen in tatsächliche Bewegung, zum Beispiel das Schließen der Finger und Greifen eines Gegenstandes. So ist es Menschen mit einer Lähmung der Hand beispielsweise möglich, wieder mit Messer und Gabel zu essen. Überraschend war, dass Patientinnen und Patienten mit chronischem Schlaganfall nach einer Zeit des täglichen Trainings ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Finger zurückerlangt haben – was mit einer Neuorganisation des Gehirns einherging: die entsprechende Gehirnaktivität wurde in andere Bahnen umgeleitet.

Surjo Soekadar ist zuversichtlich, dass auch andere Gehirnfunktionen auf ähnliche Weise wiederhergestellt werden können: Die Gehirn-Computer-Schnittstellen der nächsten Generation werden dasselbe für Gehirnfunktionen erreichen können wie Gedächtnisbildung, Emotionsregulation oder kognitive Kontrolle. Die Herausforderung besteht darin, dass Patientinnen und Patienten aufgefordert werden können, ihre Hände zu bewegen, aber nicht, depressiv zu sein. Die Gehirnaktivität kann jedoch Millisekunde für Millisekunde aufgezeichnet werden, um eine Gehirnstimulation anzuwenden und Veränderungen der Gehirnfunktion und des Gehirnverhaltens zu untersuchen. Diese Forschung kann eine tiefgreifende transformative Wirkung darauf haben, wie in Zukunft Hirnerkrankungen effektiv und ohne Nebenwirkungen behandelt werden könnten.

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