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Ambivalente Solidarität?

Solo-Selbstständige und die Soforthilfemaßnahmen während der Corona-Pandemie

27.01.2021

Die Zahl der Solo-Selbstständigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Die Zahl der Solo-Selbstständigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Bildquelle: Pixabayphotosforyou

Solo-Selbstständige wurden in den wirtschaftlichen Soforthilfemaßnahmen der Bundesregierung während der Corona-Pandemie im Besonderen bedacht. Wie sich die Maßnahmen auf gesellschaftliche Solidarität sowie auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Solo-Selbstständigkeit auswirken, untersuchen die Soziologinnen Isabell Stamm von der Technischen Universität Berlin und Lena Schürmann von der Humboldt-Universität zu Berlin im Forschungsprojekt „Solidarität mit Solo-Selbstständigen – die Ambivalenzen der Soforthilfe“. Das Projekt wurde von der Berlin University Alliance im Rahmen der „Sonderausschreibung: Pandemie“ der Grand Challenge Initiatives gefördert.

Frau Stamm, Frau Schürmann, Sie beschäftigen sich in ihrer Forschung mit der Gruppe der Solo-Selbstständigen. Was sind Merkmale der Solo-Selbstständigkeit und wieso eignet sich diese Gruppe als Forschungsobjekt?

Isabell Stamm: Solo-Selbstständige sind Personen, die ihr Einkommen nicht über eine Anstellung, sondern auf dem Markt generieren. Sie arbeiten dabei zumeist im „Alleinbetrieb“, haben also keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und bewegen sich zwischen Lohnarbeit und Unternehmertum. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, 2018 waren es circa 2,2 Millionen Menschen. Das sind mehr als die Hälfte aller Selbstständigen insgesamt.

Die Arbeit der Solo-Selbstständigen macht auf typische soziale Problemlagen aufmerksam: So birgt sie das Risiko der Prekarisierung, nämlich immer dann, wenn Solo-Selbstständige mit ihrer Tätigkeit nicht genügend Einkommen erwirtschaften können, um für Risiken wie etwa Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter vorsorgen zu können. Eine Ursache dafür ist, dass es für die Einbindung von Solo-Selbstständigen in das Sozialversicherungssystem keine einheitlichen Regelungen gibt – je nach Branche unterscheiden sie sich stark, etwa im Handwerk oder bei Kulturschaffenden.

Dr. Lena Schürmann, Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin

Dr. Lena Schürmann, Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin
Bildquelle: privat

Solo-Selbstständige weisen auch auf strukturelle Veränderungen im Arbeitsmarkt hin, der in den letzten Jahren eine immer höhere Flexibilität erfordert hat. So macht sich nur ein Teil dieser Gruppe selbstständig, um selbstbestimmt arbeiten zu können. Ein großer Teil arbeitet unter selbstständigen Bedingungen, um den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu begegnen und beispielsweise einer Arbeitslosigkeit zu entgehen.

Lena Schürmann: Corona-Pandemie, Lockdown und die damit einhergehenden Einschränkungen belasten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbstständige sowie Unternehmerinnen und Unternehmer in der Ausübung ihrer Tätigkeit mit teils schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen. Die Bundesregierung hat hier mit einem Set an Maßnahmen reagiert und versucht, gegenzusteuern. Innerhalb dieser Maßnahmen werden Solo-Selbstständige als besondere soziale Gruppe explizit als hilfsbedürftig bedacht. Das ist insofern erstaunlich, als sie im wohlfahrtsstaatlichen Solidarsystem ansonsten einen uneindeutigen Status einnehmen.

Durch die Soforthilfe wurden nicht nur Maßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Unternehmerinnen und Unternehmer angeboten, sondern auch für die sehr heterogene Gruppe der Solo-Selbstständigen, die bislang uneindeutigen Regelungen und Strukturen gegenübersteht. Durch die Soforthilfen werden Solo-Selbstständige nun pauschal als besonders schutzbedürftige Gruppe ausgewiesen.

Dabei bringt die Auflage dieses Programms und vor allem seine Inanspruchnahme eine Reihe von Ambivalenzen mit sich. Offene Fragen sind etwa: Steht Solo-Selbstständigen als Alleinunternehmerinnen und -unternehmern eine Hilfeleistung zu? Oder sollten Solo-Selbstständige als unternehmerisch agierende Personen nicht selbst für solche Risiken vorsorgen? Beinhaltet die Inanspruchnahme gesellschaftlicher Hilfe in Form der Soforthilfe auch einen Moment der gesellschaftlichen Ausgrenzung?

Eben diesen Fragen gehen wir in unserem Forschungsprojekt nach. Dabei betrachten wir die Ambivalenzen der Soforthilfe aus der Perspektive der Solo-Selbstständigen wie auch aus der Perspektive der Gesellschaft.

Sie wollten erforschen, inwiefern die Soforthilfemaßnahmen sozial akzeptiert sind und wie sich auf diese Weise Solidarität zeigt. Wie sind Sie in ihrer Studie vorgegangen?

Lena Schürmann: Wir rücken die Ambivalenzen der Soforthilfe in den Fokus. Es geht also darum, die Vielschichtigkeit und zum Teil auch Widersprüchlichkeit in der Wahrnehmung dieser Maßnahmen zu untersuchen. Dabei muss man für verschiedene Nuancen und Untertöne sensibel sein. Aus diesem Grund haben wir uns für eine qualitative Herangehensweise entschieden, die es erlaubt, möglichst offen die Erfahrungen und Meinungen von Solo-Selbstständigen ebenso wie von Vertreterinnen und Vertretern aus Medien und Politik zu erfassen und in ihrer Komplexität auszuwerten.

Wir haben problemzentrierte Interviews mit Solo-Selbstständigen geführt sowie mit Vertreterinnen und Vertretern aus Medien und Politik. In den Gesprächen haben wir unseren Interviewpartnerinnen und -partnern viel Raum gegeben, ihre Erfahrungen und Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Die Interviews wurden anschließend verschriftlicht und dienen in anonymisierter Form als Grundlage für unsere Auswertung. Dabei sind wir in mehreren Durchgängen durch das Material gegangen und haben die unterschiedlichen Themen, die im Zusammenhang mit der Soforthilfe aufgemacht werden, herausgearbeitet. Dieses haben wir zu Kategorien verdichtet und den Zusammenhang der Kategorien untereinander bestimmt. Im Laufe dieser Auswertung konnten wir die Ambivalenzen der Soforthilfe benennen und empirisch fundierte Thesen darüber formulieren, welche Aspekte die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Maßnahmen eher befördern oder behindern. Unsere Ergebnisse sind also nicht nur wissenschaftlich wertvoll, sondern erlauben es im Falle zukünftiger Krisen, schneller, effektiver und sozial verträglicher über die Auswahl und Konsequenzen von Maßnahmen zu urteilen.

Dr. Isabell Stamm, Forschungsgruppenleiterin Projekt Entrepreneurial Group Dynamics an der TU Berlin

Dr. Isabell Stamm, Forschungsgruppenleiterin Projekt Entrepreneurial Group Dynamics an der TU Berlin
Bildquelle: Martin Buehler für Volkswagenstiftung

Mittlerweile haben Sie die Datenerhebung abgeschlossen. Was können Sie zur Akzeptanz der Maßnahmen und zur Solidarität innerhalb der Gesellschaft sagen?

Isabell Stamm: Erste Eindrücke aus der Datenerhebung deuten einige Aspekte an, die wir in der geplanten Analyse weiter vertiefen und substantiell ergänzen werden: Zunächst zeigt sich eine große Spannung zwischen Binnen- und Außenperspektive im Verständnis dessen, was Solo-Selbstständigkeit ausmacht. Während die Solo-Selbstständigen eher auf ihre besonderen Arbeitsbedingungen und unternehmerischen Risiken Bezug nehmen und ihre vielseitigen Aktivitäten in den Vordergrund rücken, problematisieren Vertreter aus Medien und Politik Solo-Selbstständige am Rande der Solidargemeinschaft. Zudem deuten sich gleich mehrere Normvorstellungen darüber an, wie sich diese Stellung in der Solidargemeinschaft rechtfertigen lässt oder verändert werden sollte. Sowohl das Bild der Solo-Selbstständigen als auch die Solidarnormen scheinen sich im Laufe des Betrachtungszeitraums zu verschieben.

Wie geht es jetzt weiter in Ihrem Projekt?

Isabell Stamm: Wir planen, nun Schritt für Schritt das Datenmaterial auszuwerten. Zwischenzeitlich haben wir in Ergänzung zu unseren Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Medien einen umfangreichen Textkorpus über Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu Solo-Selbstständigen und Soforthilfe aufgebaut. Ziel ist es, im weiteren Verlauf unserer Datenauswertung die beiden von uns erhobenen Perspektiven noch stärker miteinander zu verknüpfen.

Lena Schürmann: Das Wissen darüber, wie sich die Verhandlung von Solidarität mit Solo-Selbstständigen im Verlauf der Pandemie inhaltlich füllt und welche Auswirkung dies darauf hat, Solo-Selbstständige nicht als Einzelkämpfer, sondern als Teil eines Kollektivs zu sehen – und ob sie, und unter welchen Bedingungen, diese Kategorisierung selbst nachvollziehen – ist wichtig für die wirksame Interessenvertretung dieser Gruppe. Die geplante Untersuchung bietet Aufschluss darüber, welchen Ausgrenzungsmechanismen Solo-Selbstständige unterliegen oder wann ihre Ansprüche auf Partizipation an kollektiver Sicherung als gerechtfertigt, gerecht und begründet angesehen werden. Insofern sind die erwarteten Ergebnisse nicht nur einschlägig für den wissenschaftlichen Diskurs über Solo-Selbstständige, sondern auch richtungsweisend für eine Verbesserung und Akzeptanz kollektiver Risikoabsicherung.

Schlagwörter

  • Forschung
  • Interdisziplinarität
  • Interview
  • Politik - und Gesellschaftswissenschaften