Zusammenhalt trotz Unterschieden
Ein Interview mit der Stadtsoziologin Martina Löw über den Forschungsschwerpunkt „sozialer Zusammenhalt“ der Berlin University Alliance
03.03.2020
Was prägt und was gefährdet den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft? Dem Thema „Social Cohesion“ als gesellschaftliche Herausforderung von globaler Bedeutung will sich die Berlin University Alliance verstärkt widmen.
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Social Cohesion, der soziale Zusammenhalt in Gesellschaften, ist eines der Forschungsthemen, zu denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Berlin künftig noch intensiver forschen wollen. Denn das Thema ist eine der sogenannten Grand Challenges, gesellschaftliche Herausforderungen von globaler Bedeutung, denen sich die Berlin University Alliance verstärkt widmen will. Was prägt und was gefährdet den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft? Welche sozialen Bindeglieder bewirken, dass Menschen sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, und wie lassen sich diese beeinflussen?
Die Bandbreite der Forschungsthemen zu Social Cohesion in Berlin ist enorm. Das wurde auch bei einem Vernetzungstreffen Ende Januar deutlich. Eingeladen waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 55 Projekten, die in einer ersten Ausschreibung des Verbundes zu diesem Thema erfolgreich waren.
In einem der institutionenübergreifenden Vorhaben beschäftigen sich Forscherinnen und Forscher zum Beispiel damit, wie digital vermittelte Verkehrsangebote wie CarSharing, BikeSharing und ScooterSharing räumliche Flexibilität, kostengünstige Nutzung bieten und so die Mobilität in der Stadt verändern. Doch wie kann verhindert werden, dass Menschen ausgeschlossen werden, die nicht auf dem notwendigen technischen Stand sind? Ein anderes Forschungsteam widmet sich der Frage, welche physischen und sozialen Wirkungen der Klimawandel auf den sozialen Zusammenhalt hat, etwa als Faktor für Migration oder mit Blick auf Generationengerechtigkeit. Eine Gruppe aus Forschenden der Stadtplanung, Architektur, Sozial- und Neurowissenschaften untersucht, woraus sogenannter „Stadtstress“ besteht und wie das Stadtleben Menschen belastet und Krankheiten verursachen kann.
Nun schreibt die Berlin University Alliance Mittel für umfangreichere Forschungsprojekte aus, an denen ebenfalls Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mindestens zwei Einrichtungen beteiligt sein müssen. Martina Löw, Professorin für Architektur- und Planungssoziologie an der Technischen Universität Berlin, ist Mitglied des häuserübergreifenden und interdisziplinären Gremiums („Steering Committee“), das die Grand Challenge Initiatives betreut. Ihr Schwerpunkt ist die erste Grand Challenge zum Thema sozialer Zusammenhalt.
Martina Löw, Professorin für Architektur- und Planungssoziologie an der Technischen Universität Berlin, ist Mitglied des Steering Committee "Grand Challenge Initiatives".
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Frau Professorin Löw, warum hat sich die Berlin University Alliance das komplexe Thema Social Cohesion als ersten Forschungsschwerpunkt gesucht?
Wir haben überlegt, dass mit dieser innovativen Zusammenarbeit der Hochschulen im Rahmen der Berlin University Alliance auch innovative Forschung zum Nutzen der Gesellschaft betrieben werden sollte. Im Herbst 2015 machten viele die persönliche Erfahrung, dass weder Stadt noch Gesellschaft über Strukturen verfügten, um mit der hohen Anzahl an Geflüchteten angemessen umzugehen. Die Wissenschaft drang mit entsprechenden Forschungsansätzen oder -ergebnissen nicht an die Öffentlichkeit, obwohl die Expertise in verschiedenen Fachgebieten durchaus vorlag.
Wir wollen nun die Kompetenzen der verschiedenen Berliner Institutionen und Disziplinen schnell und unbürokratisch zusammenbringen, um adäquat und schneller reagieren zu können. Mit dem Forschungsschwerpunkt Social Cohesion stellen wir uns als Wissenschaft den ganz aktuellen, globalen, gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart.
Wieso sind bei diesem eher sozialwissenschaftlich geprägten Forschungsfeld gerade auch Ingenieurinnen und Ingenieure, Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Informatikerinnen und Informatiker gefragt?
Das Forschungsfeld liegt exakt an der Schnittstelle von Geistes-, Sozial-, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Bei den großen Konfliktthemen wie Klimawandel oder Digitalisierung geht es sowohl um natur- und ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse als auch darum, wie diese Technologien unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben verändern. Die Frage, wie sozialer Zusammenhalt gestärkt werden kann, beinhaltet immer auch eine Auseinandersetzung mit den technischen Möglichkeiten.
Sozialer Zusammenhalt basiert auf kulturellen, rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Wir wissen nicht, wie wir sozialen Zusammenhalt positiv definieren können, aber wir können seine Grenzen beschreiben, zum Beispiel, wenn soziale Gruppen diskriminiert und ausgegrenzt werden oder eine Mehrheit nicht mehr optimistisch in die Zukunft blickt. Aufgrund der Breite des Themenfeldes erwarten wir, dass die Antragstellenden in der interdisziplinären Vernetzung neue Perspektiven auf die Frage nach sozialem Zusammenhalt finden.
Sozialer Zusammenhalt wird oft an gemeinsamen Werten einer Gesellschaft festgemacht. Gibt es diese in modernen Gesellschaften überhaupt noch?
Nein, die kann es in komplexen, arbeitsteilig organisierten und multikulturellen Gesellschaften nicht geben. Der Ruf nach gemeinsamen Werten entspringt immer dem Wunsch nach Vereinfachung in einer komplexen Situation. Der Alltag in Berlin lehrt uns, dass Zusammenleben auch auf der Basis von Differenz gut möglich ist.
Ist Berlin also ein guter Ort, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erforschen?
Berlin ist ein sehr guter Ausgangspunkt. Wir haben Erfahrung mit einer heterogenen Bevölkerung und wir haben bereits viele Forschungsverbünde, die sich mit Themen von sozialem Zusammenhalt beschäftigen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesen Forschungsverbünden gehen davon aus, dass Zusammenhalt über die Anerkennung von Differenz entsteht. Es wird nicht erwartet, dass man besonders angenehm zusammenlebt, wenn sich alle auf gemeinsame Werte einigen, sondern wenn alle wissen, dass wir unterschiedlich sind und uns in unseren Unterschieden ergänzen. Das ist in der internationalen Forschung nicht überall so. Die Berliner Forschung bemüht sich um Strategien dafür, das Unterschiedliche zuzulassen und in den Dialog zu bringen. Ich denke, hier können wir mit unserem dezidiert interdisziplinären Forschungsansatz auch international interessante Akzente setzen.
Das Interview wurde zuerst in der Hochschulzeitung der Technischen Universität Berlin „TU intern“ vom 10. Februar 2020 veröffentlicht.