Auf der Suche nach Heiratsvermittlern
UniSysCat erforscht komplexe katalytische Systeme für die grüne Chemie der Zukunft
25.04.2019
In Pflanzen laufen enzymatischen Prozesse blitzschnell nacheinander ab. In UniSysCat werden Katalysatoren erforscht, die Ähnliches in industriellen Produktionsprozessen leisten sollen.
Bildquelle: TU Berlin / PR
Während Sie diesen Text lesen, laufen in Ihrem Körper Abermillionen von chemischen Reaktionen ab. Diese sorgen zum Beispiel dafür, dass Ihre Körpertemperatur nicht zu stark schwankt, dass ihre Zellen nicht verhungern, dass Sie sich bewegen können. Dabei produzieren Sie keine Abfälle, die nicht recycelbar wären. Und dann werden Sie von alldem auch noch so wenig in Anspruch genommen, dass Sie zeitgleich atmen, sitzen, lesen und sich fragen können, warum Sie sich das erstaunlich kompakte biochemische Wunderwerk vergegenwärtigen sollen, dass Sie sind. Ziel ist, Ihnen die immense Faszinationskraft ebenso wie die Komplexität der Prozesse vor Augen zu führen, die Chemieprofessor und Katalyse-Experte Matthias Drieß von der Technischen Universität Berlin umtreiben.
Die Erkenntnisse der Forscherinnen und Forscher könnten das Zeitalter der grünen Chemie von morgen einläuten.
Der Vizesprecher des Exzellenzclusters UniSysCat untersucht unter anderem, unter welchen Bedingungen unterschiedliche chemische Reaktionen nacheinander geordnet auf kleinstem Raum ablaufen können. Die Erkenntnisse, die Drieß und seine Kolleginnen und Kollegen gewinnen, könnten das Zeitalter der grünen Chemie von morgen einläuten. Zum Beispiel: Ammoniak. Der ist für die Welternährung von entscheidender Bedeutung, kommthauptsächlich in Düngemitteln zum Einsatz und wird seit etwas mehr als 100 Jahren mittels eines großindustriellen Verfahrens, der Haber-Bosch-Synthese, gewonnen. Bei rund 400 Grad Celsius und 200-fachem Atmosphärendruck vereinigen sich hier, ausgehend von molekularem Stickstoff und Wasserstoff, pro Molekül ein Stickstoff und drei Wasserstoffatome. Besonders „grün“ im Sinne von Energieeffizienz und Nachhaltigkeit ist das Verfahren nicht.
Zum Vergleich der Blick in den Garten: Permanent wandeln hier im Boden lebende Knöllchenbakterien elementaren Stickstoff aus der Luft in Ammoniak um – ein für die davon profitierenden Pflanzen lebenswichtiger Vorgang. Hoher Druck? Hohe Temperaturen? Hoher Energieaufwand? Fehlanzeige. „Bei beiden Verfahren spielt die Lockerung von starken chemischen Bindungen die entscheidende Rolle“, erläutert Matthias Drieß. Der Hintergrund: molekularer Wasserstoff und Stickstoff verbinden sich weder im Reaktor noch in der Natur freiwillig zu Ammoniak, sondern nur unter dem Einfluss sogenannter Katalysatoren.
Ammoniak ergeht es hier ebenso wie mehr als 85 Prozent aller heute verfügbaren Produkte aus der chemischen Industrie: Katalysatoren säumen ihren Herstellungsweg, machen die Produktion von Baustoffen, Medikamenten und Kosmetika überhaupt erst ökonomisch oder möglich. Vorstellen solle man sich diese chemischen Assistenten am besten als Heiratsvermittler, schlägt Matthias Drieß vor. „Katalysatoren lösen bisherige Bindungen auf, so dass die Reaktionspartner ledig werden, vermitteln dann, dass neue Bindungen geknüpft werden und gehen nach getaner Arbeit ‚unverbraucht’ wieder aus dem Prozess hervor.“
Prof. Dr. Matthias Driess (li.), Prof. Dr. Peter Hildebrandt (Mitte) und Prof. Dr. Arne Thomas (alle Technische Universität Berlin) sind die Sprecher des Clusters UniSysCat.
Bildquelle: Phil Dera
Der Umstand, der die „Hochzeit“ in der Natur grüner und wesentlich weniger aufwändig macht: Die Evolution hat Reaktionsnetzwerke hervorgebracht, die mehrere verschiedene Reaktionen auf engstem Raum katalysieren. So schont sie Ressourcen, nutzt Synergien. Die herkömmliche, industrielle Produktion hingegen vollzieht einen Produktionsschritt nach dem anderen – auf Hunderten von Quadratmetern großen Industrieanlagen.
„Wenn wir es richtig angehen, werden wir in der Lage sein, es besser zu machen, als die Natur.“ Matthias Driess
„In einer einzigen Pflanzenzelle als Reaktionsraum laufen mehrere Reaktionsketten blitzschnell gekoppelt und verlässlich nacheinander ab, für die wir in der Produktion eine riesige Industrieanlage bräuchten“, verdeutlicht Drieß. Die Bedeutung von Grundlagenforschung im Bereich der gekoppelten Katalyse könne man insofern gar nicht genug betonen. „Angesichts knapper werdender Ressourcen müssen wir mit Hilfe von Katalyse Recycling betreiben und dafür nachhaltige Energiequellen nutzen“, betont Drieß. Fossile Brennstoffe gingen zwar – Stichwort Energiekrise – tatsächlich bald zur Neige, nicht aber die Sonnen-, Wind und Wasserenergie.
„Nostradamus-Meldungen werden nicht eintreffen“, versichert der Forscher. Letztlich gehe es um Effizienz. „Für mich ist auf lange Sicht die künstliche Pflanze die Ultima Ratio. Wenn wir es richtig angehen, werden wir in der Lage sein, es besser zu machen, als die Natur.“
Dieser Text wurde zuerst in der gemeinsamen Beilage von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin im Tagesspiegel vom 15. Februar 2019 veröffentlicht.
Weitere Informationen
Unifying Systems in Catalysis (UniSysCat)
Der Exzellenzcluster der Technischen Universität erforscht das Verständnis und Design von neuen reaktionsbeschleunigenden Stoffen in der chemischen und biologischen Katalyse, die neue Maßstäbe in der grünen Chemie setzen. In fünf interdisziplinären Forschungsfeldern entwickeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Best Practice Methoden für die chemische Industrie der Zukunft: Wo bislang häufig unter hohem Energieaufwand mehrstufig produziert wird, wollen die Forscher künftig – ähnlich, wie in einer biologischen Zelle – mehrere Reaktionen kontrollierbar nacheinander auf engerem Raum stattfinden lassen und so massiv Ressourcen einsparen.