iKNOW – Was tun bei hohem Brustkrebsrisiko?
Ein Forschungsteam der Charité - Universitätsmedizin Berlin und der Technischen Universität Berlin entwickelt ein Online-Beratungstool für Frauen, bei denen durch einen Gentest ein erhöhtes Brust- und Eierstockkrebsrisiko ermittelt wurde
16.01.2019
Weist international auf die Problematik der Brustkrebserkrankung hin: Die rosa Schleife als Symbol für „Breast Cancer Awareness“
Bildquelle: marijana1 / Pixabay (CC0 Creative Commons)
Als sich eine prominente Schauspielerin prophylaktisch beide Brüste und später die Eierstöcke entfernen ließ, war dies nicht nur ein Thema für die Boulevard-Medien. Der sogenannte Angelina-Jolie-Effekt ließ die Nachfrage nach Tests auf Mutationen in den Genen BRCA1 und BRCA2 bei Frauen mit familiärer Brust- und Eierstockkrebsbelastung extrem ansteigen. „Das ist positiv, denn man kann ja eine Menge tun“, sagt Friederike Kendel, Medizinpsychologin an der Charité. „Allerdings gibt es auch eine gestiegene Nachfrage nach prophylaktischen Operationen von Frauen ohne ein positives Gentestergebnis, die medizinisch nicht sinnvoll sind. Und viele Frauen machen sich ganz unnötig Sorgen.“
Bis zu zehn Prozent aller Brustkrebserkrankungen und bis zu 30 Prozent aller Eierstockkrebserkrankungen werden durch Mutationen in diesen beiden Genen verursacht. In selteneren Fällen können sie Tumoren in anderen Organen wie Magen, Darm oder Bauchspeicheldrüse auslösen.
Im Brustzentrum der Berliner Charité führt Gynäkologin Dorothee Speiser Beratungsgespräche mit Frauen, die erblich vorbelastet sind.
Bildquelle: Nanette Kalmbach
"Es ist wichtig, dass Betroffene ausführlich über ihre Risiken und Optionen aufgeklärt werden.“ Markus Feufel
Wie sollen, wie können Frauen sich verhalten, wenn sie erfahren, dass sie Trägerin einer Hochrisiko-Mutation sind? Eine solche Mutation löst bis zum 80. Lebensjahr mit bis zu 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit Brustkrebs und mit rund 40 Prozent Wahrscheinlichkeit Eierstockkrebs aus. Ein achtköpfiges Team um die Gynäkologin Dorothee Speiser und Friederike Kendel von der Charité und den Arbeitswissenschaftler Markus Feufel von der Technischen Universität Berlin entwickelt derzeit das Online-Beratungstool iKNOW. Es soll einerseits Ärztinnen und Ärzte dabei unterstützen, Frauen über ihr individuelles Risiko aufzuklären. Vor allem soll es aber Betroffenen helfen, das Risiko und ihre Optionen zu verstehen und realistisch einzuschätzen. Mit 740.000 Euro wird das Projekt vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses drei Jahre lang gefördert.
Ausgangspunkt für iKNOW ist der jeweilige Familienstammbaum. „Gibt es eine Verwandte, die vor dem 40. Lebensjahr an Brust- oder Eierstockkrebs erkrankt ist und weitere Risikofaktoren, ist ein Test sinnvoll. Die niedergelassene Gynäkologin wird ihre Patientin dann an eine genetische Beratungsstelle überweisen“, erklärt Friederike Kendel. Erst dort wird in einem ausführlichen Aufklärungsgespräch zwischen Ärztinnen und Patientin entschieden, ob getestet wird. Nach dem Test findet eine erneute, individualisierte Beratung statt, in der alle zur Verfügung stehenden Optionen abhängig vom Testergebnis erläutert werden.
Im Falle eines negativen Testergebnisses ist das Risiko einer genetischen Krebserkrankung eher gering und bedeutet eine Entlastung. Doch was, wenn er positiv ist? „Dann haben Frauen häufig nur den einen Gedanken im Kopf: ,Ich bekomme Krebs!‘ Umso wichtiger ist es, dass sie ausführlich über ihre Risiken und Optionen aufgeklärt werden und diese Informationen auch über das Gespräch hinaus zur Verfügung haben und wirken lassen können“, sagt Markus Feufel. Um sich ein Bild von der derzeitigen Situation machen zu können, hat der Arbeitswissenschaftler gemeinsam mit seiner Projektkollegin in der Sprechstunde von Dorothee Speiser im Zentrum für Familiären Brust- und Eierstockkrebs der Charité hospitiert.
Haben das Beratungstool iKNOW erarbeitet: Arbeitswissenschaftler Markus Feufel, Medizinpsychologin Friederike Kendel und Gynäkologin Dorothee Speiser (v.l.n.r.)
Bildquelle: iKNOW
"Viele Fragen kommen erfahrungsgemäß erst nach der Beratung." Friederike Kendel
„Ob und wann bekomme ich welchen Krebs? Kann ich aktiv etwas dagegen tun? Sollte ich mich jetzt gleich radikal operieren lassen? Wie sind meine Überlebenschancen, wenn ich erkranke? Wie spreche ich über das Testergebnis mit meinem Partner, der Familie, mit Freunden? – Viele Fragen kommen erfahrungsgemäß erst nach der Beratung“, sagt Medizinpsychologin Kendel. An dieser Stelle solle iKNOW ansetzen.
Die Online-Anwendung verfügt über einen Beratungsmodus, über den die behandelnden Ärztinnen und Ärzte dem Testergebnis entsprechend individuelle Beratungsinhalte eingeben und dann im Gesprächsverlauf mit den Ratsuchenden zusätzliche Programmteile nach Bedarf freischalten können. Verständliche Informationen über die Gen-Mutationen und die damit verbundenen Risiken finden sich dort ebenso wie Erklärungen zu Vor- und Nachteilen von prophylaktischen Operationen versus engmaschigen Kontrolluntersuchungen, Informationen zu gesunder Lebensweise, sich hartnäckig haltenden Krebsmythen sowie empfehlenswerte Literatur. Über ihren persönlichen Zugangscode können die Ratsuchenden und Patientinnen diese Informationen jederzeit von zu Hause aus über einen gesicherten Zugang online anschauen oder ausdrucken.
Eine Mutation der Gene BRCA1 und/oder BRCA2 bedeutet für eine Ratsuchende ein „hohes Lebenszeitrisiko“, eine Brust- und/oder Eierstockkrebserkrankung zu erleiden. Aber was heißt das ganz konkret für eine Frau, die beispielsweise mit 30 Jahren von einer pathogenen Mutation erfährt? Welche Optionen hat sie? „Das ist nach meiner Erfahrung in den Hospitationen ganz individuell und hängt unter anderem auch von einem möglichen Kinderwunsch ab“, sagt Markus Feufel. Das kumulative Risiko zu erkranken ist über die gesamte Lebenszeit betrachtet sehr hoch. „Doch wenn man schaut, wie sich das Risiko in den nächsten fünf oder den nächsten zehn Jahren verändert, ergibt sich ein ganz anderes Bild, das den Zeitdruck etwas nehmen kann. Auch das gilt es zu visualisieren“, fügt Friederike Kendel an.
Betroffene Frauen sollen befähigt werden, mit der Krankheitsangst umgehen zu können.
Umsetzung und Begleitung des Projekts iKNOW verlangen viel Fingerspitzengefühl, denn den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geht es vor allem darum, die Frauen durch Fachwissen nicht zu verunsichern. Sie sollen vielmehr dazu befähigt werden, mit der Krankheitsangst umgehen zu können.
Dafür spielt auch eine Rolle, wie Informationen durch das Beratungstool präsentiert werden: Nicht nur die Inhalte, sondern auch die Sprachkomplexität, die Farbkonzepte und die Bild-und Formensprache werden von dem Team um Dorothee Speiser, Friederike Kendel und Markus Feufel ausführlich diskutiert. Nutzerfreundliche Bedienoberflächen, verständliche Risikoformate und die technische Umsetzung von iKNOW ist die Domäne des Arbeitswissenschaftlers im Projekt, medizinisches Fachwissen und die Umsetzung in der Beratung die der Gynäkologin. Einfühlungsvermögen in die Psyche der Patientin und deren psychosoziale Bedürfnisse fällt in den Aufgabenbereich der Psychologin. Für das interdisziplinäre Team, das wöchentlich zusammenkommt, ist das Projekt selbst ein lehrreicher Prozess. „Es treffen ganz unterschiedliche Welten aufeinander. Manchmal meinen wir Dinge schon oft besprochen zu haben und merken dann, dass jeder sein ganz eigenes Verständnis von einem bestimmten Begriff hat“, sagt Markus Feufel. Auch Friederike Kendel sieht den Entstehungsprozess von iKNOW als Gewinn an. „Psychologen haben ihre Forschung gemacht – und Ärzte die ihre. Im Grunde haben wir meist nebeneinanderher gearbeitet. Doch jetzt kommen wir richtig ins Gespräch!“
Mitte 2019 soll ein Prototyp des Beratungstools fertig sein und im Rahmen einer Studie sechs Monate lang evaluiert werden. Eine realistische Risikowahrnehmung und ein genaueres Risikoverständnis bei den Betroffenen sind das Hauptanliegen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bei erfolgreichem Verlauf der Pilotphase könnte iKNOW von 2020 an bundesweit den Zentren für Familiären Brust- und Eierstockkrebs für die Routineversorgung zur Verfügung stehen.