„Es gibt noch viele unerzählte Geschichten“
Am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von fünf Universitäten aus Berlin und Brandenburg, einem Rabbinerkolleg und einem Forschungsinstitut
27.11.2018
Das Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg befindet sich in der historischen Mitte Berlins.
Bildquelle: René Koch/Berlin
Hans Söhnker war ein erfolgreicher Schauspieler während und nach dem Dritten Reich. Er spielte in Propagandafilmen mit. Aber er versteckte auch von den Nationalsozialisten verfolgte Jüdinnen und Juden und rettete ihnen damit das Leben. Dafür wurde er 2017, fast dreißig Jahre nach seinem Tod, als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Diese Auszeichnung vergibt Yad Vashem, die Gedenkstätte des Holocausts in Israel, an nicht-jüdische Menschen, die während des Nationalsozialismus unter Lebensgefahr Jüdinnen und Juden vor dem Tod bewahrt haben. Die „‚Gerechten unter den Völkern‘ als Erinnerungskategorie“ sind auch Forschungsgegenstand von Manja Herrmann. Sie ist Postdoktorandin am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
2012 wurde die Einrichtung unter dem Namen Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg gegründet, als gemeinsames Projekt der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin, der Universität Potsdam und seit 2014 der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) sowie dem Rabbinerseminar Abraham Geiger Kolleg und dem Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. 2017 bekam das interuniversitäre und überregionale Verbundprojekt den Namen der Historikerin Selma Stern (1890-1981). Sie war eine der ersten akademisch ausgebildeten Historikerinnen in Deutschland und die erste Frau in der Wissenschaft des Judentums. 1941 floh sie mit ihrem Mann Eugen Täubler – dem damaligen Leiter der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums, bei der sie angestellt war – vor den Nationalsozialisten in die USA. Mit ihrem Werk „Der preußische Staat und die Juden“ legte Selma Stern den Grundstein für die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung.
An der angeschlossenen PostDoc-Akademie bildet das Selma Stern Zentrum den wissenschaftlichen Nachwuchs aus. Postdoktorandinnen und Postdoktoranden arbeiten dort gemeinsam mit Promovierenden in insgesamt vier verschiedenen Forschungsbereichen: Sie untersuchen das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen zueinander, Perspektiven der im 15. Jahrhundert aus Spanien ausgewanderten sephardischen Jüdinnen und Juden, das Leben in der Diaspora und die Erinnerungskultur nach der Shoah. Letzteren leitet Manja Herrmann seit diesem Wintersemester für die nächsten dreieinhalb Jahre.
Manja Herrmann ist Postdoktorandin am Selma Stern Zentrum und entwickelt im Forschungsbereich „Zeugenschaft – Memorialgeschichte (nach) der Shoah“ das Konzept einer Forschungsgruppe zur Erinnerungskategorie der „Gerechten unter den Völkern“.
Bildquelle: Anne-Sophie Schmidt
„Die Zahl der ‚Gerechten unter den Völkern‘ ist keine statistische Größe.“ Manja Herrmann
Über 26.000 Menschen aus über 50 Ländern ehrte Yad Vashem seit 1963. „In Deutschland, Frankreich, Polen und Israel spielen deren Geschichten eine große Rolle für die Erforschung, Erinnerung und auch Politisierung des Holocausts“, sagt Manja Herrmann. Die Zahl der „Gerechten“ sei keine statistische Größe, sondern habe eine bestimmte Funktion für die Länder. Herrmann interessiert, wie die „Gerechten“ zu unterschiedlichen Zeiten in der fast 60-jährigen Rezeptionsgeschichte wahrgenommen wurden. Dass sich Hans Söhnker bis in die 1960er Jahre nicht traute, öffentlich über sein Engagement zu sprechen, spiegele den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit in den Nachkriegsjahren wider. „Das Projekt von Manja Herrmann hängt ganz konkret mit der Geschichte der alten Bundesrepublik zusammen“, sagt auch Rainer Kampling, stellvertretender Sprecher des Selma Stern Zentrums und Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin mit den Schwerpunkten christlicher Antijudaismus und jüdisch-christlicher Dialog. „Es gibt noch viele unerzählte Geschichten und ungestellte Fragen.“
Diese Geschichten auszugraben und zu untersuchen, ist eines der Anliegen des Selma Stern Zentrums. Aber auch jüdisch-jüdische Begegnungen im Mittelmeerraum, das sogenannte Bilderverbot in den monotheistischen Religionen und jüdische Politik in der Moderne sind aktuelle Forschungsschwerpunkte. Notwendig sei das Selma Stern Zentrum gewesen, sagt Kampling. „In Deutschland gibt es kein vergleichbares Zentrum, das diese Vielfalt abdeckt“. Zudem verfügt es über eine hervorragende Infrastruktur: Forscherinnen und Forscher können sowohl die Bibliotheken der beteiligten Einrichtungen nutzen als auch zahlreiche einschlägige Archive und Bibliotheksbestände der Kooperationspartner einsehen. Durch die Einrichtung des ZJS Judaica Portals in Zusammenarbeit mit dem Kooperativen Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg konnte die Infrastruktur zusätzlich gestärkt werden.
„Das Zentrum ist der permanente Versuch, Transdisziplinarität nicht nur zu fordern, sondern aktiv umzusetzen.“ Rainer Kampling
Die Vielfalt ergibt sich unter anderem durch die Interdisziplinarität des Forschungsinstituts: Sämtliche geisteswissenschaftliche Disziplinen seien vertreten, von der Theologie über die Jiddistik hin zu den Rechtswissenschaften. „Das Zentrum ist der permanente Versuch, Transdisziplinarität nicht nur zu fordern, sondern aktiv umzusetzen“, sagt Kampling. Die Ergebnisse fließen nicht nur in die einzelnen Forschungsarbeiten ein. Auch die Jahrestagung, Konferenzen, Workshops und die Leo Baeck Summer University – eine zweiwöchige Summer School für Doktorandinnen und Doktoranden in den Jüdischen Studien – des Zentrums profitieren von der fachlichen Vielfalt. Mit der jeweils im Wintersemester stattfindenden Ringvorlesung wendet sich das Selma Stern Zentrum an eine breite Öffentlichkeit. In einer früheren Reihe ging es um „Die vergessenen Vergessenen“: jüdische Arme, Dienstmädchen oder Zigarrendreher. „Wir wollen wegkommen von der Aufzählung der jüdischen Nobelpreisträger“, sagt Rainer Kampling. „Die jüdische Geschichte ist auch eine Geschichte der jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter.“
In diesem Semester steht das Thema „Migration“ im Mittelpunkt. Auf dem Programm stehen jüdische Wanderungsbewegungen vom alten Griechenland bis hin zu Migration in das heutige Berlin. Mit diesen vielfältigen Perspektiven auf ein aktuelles Thema stößt das Selma Stern Zentrum auf breites Interesse, der Vorlesungssaal des Zentrums in der Sophienstraße in Mitte platze aus allen Nähten, sagt Kampling.
Rainer Kampling ist stellvertretender Sprecher des Selma Stern Zentrums und Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Als Verbundprojekt profitiert das Selma Stern Zentrum von den Alleinstellungsmerkmalen aller Beteiligten: An der Freien Universität befindet sich beispielsweise das Institut für Judaistik, 1963 als erstes Institut in der Nachkriegszeit in Deutschland gegründet, an der Technischen Universität das Zentrum für Antisemitismusforschung, Jüdischen Studien und Jüdische Theologie können an der Universität Potsdam studiert werden, am Abraham Geiger Kolleg erfolgt die Rabbiner- und Kantorenausbildung, an der Humboldt-Universität zu Berlin werden kulturwissenschaftliche Aspekte gelehrt und erforscht, an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) die literaturwissenschaftlichen Aspekte und mit der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, einem nachgewählten Mitglied, deckt das Zentrum auch die Geschichte der jüdischen Musik ab.
Die vielfältige und herausragende Forschung des Zentrums mache seine Besonderheit aus ebenso wie die kollegiale und herzliche Atmosphäre.
Die Form des Verbunds ermögliche eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Universitäten und Institute. Sie bedeute aber auch organisatorischen Aufwand. „Von außen betrachtet hat die Zusammenarbeit fast etwas Mirakulöses“, sagt der Theologe. Fünf Universitäten, zwei Bundesländer und der Bund sind finanziell beteiligt. Das Zentrum hat seinen Hauptsitz in der Sophienstraße in Berlin-Mitte, schon es dort einzurichten sei eine koordinative Herausforderung gewesen. Trotz einiger Anfangshürden laufe es nun aber sehr gut. Die Räume des Zentrums sind inzwischen fester Bestandteil der Forschungslandschaft und Kommunikationsraum für ein inzwischen internationales Netzwerk. „Seit der Gründung hat sich das Zentrum als überaus erfolgreich und weiterführend erwiesen. Alle Beteiligten haben Interesse an einer guten Zusammenarbeit – das merkt man.“
Manja Herrmann schätzt das Selma Stern Zentrum auch für seine Internationalität. „Man kommt sehr unkompliziert mit herausragenden internationalen und nationalen Forschenden in Kontakt.“ Der wissenschaftliche Beirat bestehe aus renommierten internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Jüdischen Studien; einmal im Jahr stehen sie Postdoktorandinnen und Postdoktoranden in beratenden Gesprächen zur Verfügung.
Derzeit teilen sich ein Wissenschaftler aus Israel und ein Kollege der US-amerikanischen Harvard University ein Büro, erzählt Rainer Kampling. Auch das mache den Charme und die Besonderheit des Zentrums aus. Die kollegiale und herzliche Atmosphäre des Selma Stern Zentrums spreche sich genauso schnell herum wie dessen vielfältige und herausragende Forschung, sagt Kampling: „Forschende aus der ganzen Welt hören davon und wollen dann selbst kommen.“