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Direkter Link zwischen Reiz und Erfahrung

Neurowissenschaftler der Humboldt-Universität und Informatiker der Technischen Universität entwickeln gemeinsam eine neue Theorie der Sinneswahrnehmung

14.11.2018

Wenn unverhofft ein Reh vor das Auto läuft, muss man blitzschnell reagieren. Doch wie genau kombiniert das Gehirn den externen Sinneseindruck mit der internen Erwartung?

Wenn unverhofft ein Reh vor das Auto läuft, muss man blitzschnell reagieren. Doch wie genau kombiniert das Gehirn den externen Sinneseindruck mit der internen Erwartung?
Bildquelle: Ivana Cajina / Unsplash

Blitzschnell zu reagieren, kann überlebenswichtig sein. Etwa, wenn unverhofft ein Reh vor das Auto springt oder beim Waldspaziergang plötzlich eine Wildschweinrotte aus dem Gebüsch bricht. Der Sinneseindruck wird in Sekundenbruchteilen durch ein gigantisches Netzwerk an Neuronen an die Stelle des Gehirns geleitet, wo entsprechende Erfahrungen und Erwartungen verankert sind, damit verglichen und eine Reaktionsanweisung zurückgeschickt. Bremsen! Weglaufen! Nicht bewegen! – je nachdem. So die klassische Vorstellung der Sinneswahrnehmung.

Doch wie genau kombiniert das Gehirn den externen Sinneseindruck (feedforward) mit der internen Erwartung (feedback)? Der Australier Matthew Larkum, Neurowissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat hierzu eine Theorie entwickelt: Statt über ein großes Netzwerk geschieht dies innerhalb bestimmter Nervenzellen. Nämlich in den Pyramidalzellen, die in der Großhirnrinde sitzen und nach der Form ihres Zellkörpers benannt sind. „Wir meinen, dass diese Zellen zwei Bereiche haben. In einem kommt die Information von außen an, im anderen sitzt die Erwartung.“ Dann wird beides verglichen, verrechnet und die Verbindung zwischen den beiden „Kästchen“ gibt dann das Feedback: Es ist genau das, was ich erwartet habe. Oder eben: Achtung! Fehlermeldung! Das kenn ich nicht! In 50 bis 100 Millisekunden ist das Wichtigste dann bereits passiert und der Mensch reagiert.

Matthew Larkum ist Neurowissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Matthew Larkum ist Neurowissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bildquelle: Matthew Larkum

„Wir denken, dass wir nun tatsächlich den Mechanismus der Wahrnehmung gefunden haben.“ Matthew Larkum

In Experimenten mit Mäusen konnte Larkum seine Theorie belegen. Es gelang ihm, das blitzschnelle Ansprechen einzelner Pyramidalzellen mit feinen Elektroden zu messen. Die Nager waren darauf trainiert, nach leichter Berührung eines Schnurrhaares eine Belohnung zu erhalten – sie durften an Zuckerwasser lecken. Experimentell realisiert wird dies, indem ein mit magnetischer Farbe bestrichenes Schnurrhaar von einem Magneten bewegt wird. Die rasche Kalziumausschüttung der Pyramidalzellen nach dem Sinnesreiz lässt sich messen. Das Öffnen der Kalziumkanäle konnten die Forscher aber auch optogenetisch (also durch Licht) verhindern und so die Wahrnehmung der Maus, dass die Schnurrhaare berührt werden, blockieren. Und umgekehrt konnten sie die Maus dazu bringen, zu halluzinieren, indem sie das „Wahrnehmungskästchen“ der Zellen stark reizten. Die Folge: die Maus leckte, ohne dass ein Tasthaar berührt wurde. „Wir denken, dass wir nun tatsächlich den Mechanismus der Wahrnehmung gefunden haben“, folgert Matthew Larkum aus diesen Verhaltensexperimenten.

Natürlich reagiert nicht nur eine Pyramidalzelle auf einen Sinnesreiz, sondern Tausende, wenn nicht Millionen parallel. Experimentell ist das kaum zu erfassen. An dieser Stelle kommt der Informatiker Henning Sprekeler von der Technischen Universität Berlin ins Spiel. Seine Aufgabe ist es, möglichst einfache Differentialgleichungen zu finden, die die Ergebnisse der Mausexperimente dennoch exakt mathematisch beschreiben. „Zunächst haben wir die Mathematik für eine dieser Zellen aufgebaut, dann für ein Netzwerk von vielen Zellen“, sagt Henning Sprekeler. „So versuchen wir Larkums Resultate erst auf der Ebene von Einzelzellen, dann von Tausenden und am Ende von ganzen Hirnarealen in ein Bild zusammenzufügen, welches dann am Computer simuliert wird.“

Henning Sprekeler ist Informatiker an der Technischen Universität Berlin.

Henning Sprekeler ist Informatiker an der Technischen Universität Berlin.
Bildquelle: MKP

Es ist eine Art Pingpong aus Experiment und mathematischer Verfeinerung.

Der Neurowissenschaftler kann danach in Experimenten mit den Mäusen überprüfen, in wieweit die Vorhersagen zutreffen. In der nächsten Runde verfeinert der Informatiker sein Gleichungssystem – und so weiter. Es ist eine Art Pingpong aus Experiment und mathematischer Verfeinerung. Ziel des Projektes ist es, zu verstehen, wie Feedback-Signale die Wahrnehmung beeinflussen und welche Nervenschaltkreise das Gehirn dabei verwendet. Das Projekt mit Namen „Functional Role of Feedback in Sensory Representation“ wird seit Mitte 2017 für drei Jahre von der Einstein-Stiftung Berlin finanziert.

Langfristig könnte Matthew Larkums „Zwei-Kästchen-Theorie“ das Verständnis und die Therapie bestimmter psychischer Erkrankungen grundlegend verändern. Zum Beispiel von Psychosen. „Halluzinationen sind vielleicht nichts anderes als eine übergroße Erwartungshaltung gegenüber einem eher schwachen Sinneseindruck.“ Um diesen Gedanken zu überprüfen, lässt Larkum seine Mäuse derzeit unter LSD- oder Ketamin-Einfluss agieren. „Bei Autismus hingegen vermuten wir, dass das andere Kästchen – also die Wahrnehmung der realen Welt – zu mächtig ist“, erklärt Larkum. Die Erwartungen wären demnach bei Autisten nur sehr untergeordnet, weshalb sie hypersensibel auf jeden neuen Sinnesreiz reagieren.

Schlagwörter

  • Forschung
  • Interdisziplinarität
  • Mathematik und Informatik
  • Medizin