Adoptiere ein Polyeder
Die Mathematikerin Anna Maria Hartkopf gibt mit ihrer Doktorarbeit einen Einblick in die Welt der Polyeder
06.11.2018
Polyeder sind geometrische Figuren, die aus Ecken, Kanten und ebenen vieleckigen Seitenflächen bestehen.
Bildquelle: © Projekt „Adoptiere ein Polyeder“
Sie heißen „Eugen“, „Zauberhut“ und „Otto von Gunderlund“; sie haben Ecken und Kanten, tragen gern Neonfarben, und ihre Geschwister hören ebenfalls auf ausgefallene Namen. Die drei sind Polyeder – geometrische Figuren, die aus Ecken, Kanten und ebenen vieleckigen Seitenflächen bestehen, wie etwa der Würfel oder die Pyramide. Das besondere an „Eugen“, „Zauberhut“ und „Otto von Gunderlund“ ist, dass sie adoptiert wurden.
Auf der Homepage des Projekts „Adoptiere ein Polyeder“ können sich Interessierte eines der mathematischen Objekte aussuchen, es farblich gestalten und ihm einen Namen geben – und es so zum Leben erwecken. Mehr als 170 Polyeder haben bereits einen Paten gefunden. Die Patenschaft für die geometrische Figur kostet nichts. Initiatorin des Projekts, in dem Mathematikerinnen und Mathematiker der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität Berlin über Eigenschaften der Polyeder informieren, ist Anna Maria Hartkopf. Entstanden ist die Idee im Rahmen ihrer Promotion in der Arbeitsgruppe Diskrete Geometrie am Institut für Mathematik der Freien Universität Berlin. Bis zum Jahr 2020 möchte sie die Promotion abgeschlossen haben.
Die Projektleiterin von „Adoptiere ein Polyeder“ Anna Maria Hartkopf ist seit 2016 Doktorandin in der Arbeitsgruppe Diskrete Geometrie am Institut für Mathematik der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Janine Kuehn
„Mit der Adoption werden die Polyeder aus der Sphäre der Abstraktion herausgeholt.“ Anna Maria Hartkopf
Der Mathematikerin ist es wichtig, dass sich jeder an dem Projekt beteiligen kann – unabhängig vom mathematischen Vorwissen. „Citizen Science“ („Bürgerwissenschaften“) wird dieser Ansatz genannt, bei dem Bürgerinnen und Bürger aktiv in die wissenschaftliche Forschung einbezogen werden. Die adoptierten Polyeder können in einer Virtual Reality-Ansicht dreidimensional dargestellt und mit einer 3D-Brille betrachtet sowie als Bastelbogen ausgedruckt, angemalt und zusammengebaut werden. „So kann man sein eigenes Polyeder auch physisch Gestalt annehmen lassen“, sagt Anna Maria Hartkopf. Die Mathematik – nämlich die kombinatorische Struktur abzubilden – mache man dabei fast nebenbei.
Gleichzeitig bringe man sich auf eine spielerische und kreative Art und Weise in die Mathematik ein. Denn die meisten Polyeder haben weder einen Namen noch eine Nummer. Man kenne bisher nur ihre kombinatorische Struktur, erläutert Hartkopf. „Mit der Adoption bekommen sie einen Namen. Und mit dem Zusammenbau werden die Polyeder aus der Sphäre der Abstraktion herausgeholt." Der Arbeitstitel des Projektes sei daher auch „Lost in Abstraction“ („Verloren in der Abstraktion“) gewesen. Fotos der gebastelten Figuren laden die Patinnen und Paten dann wieder auf der Projekt-Homepage hoch. „So entsteht eine kollektive Kunstaktion mit wissenschaftlichem Hintergrund“, erklärt die Projektleiterin, „also ‚Citizen Art’.“
Anna Maria Hartkopf versucht, Menschen online und offline für Polyeder zu begeistern.
Mit Polyedern beschäftigt sich Anna Maria Hartkopf, seit sie 2016 in der Arbeitsgruppe Diskrete Geometrie von Mathematikprofessor Günter M. Ziegler, inzwischen Präsident der Freien Universität, mitarbeitet. Mathematik und Kunst hat sie aber schon vorher zusammengebracht. Für das Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach hat sie nach ihrem Diplom 2011 in Mathematik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zwei Jahre lang die IMAGINARY-Ausstellung koordiniert. Die Ausstellung wurde 2008 im „Jahr der Mathematik“ konzipiert und verbindet Mathematik und Kunst. Sie war so erfolgreich, dass sie bis heute besteht. „Dort habe ich mich zum ersten Mal mit Wissenschaftskommunikation im Bereich Mathematik beschäftigt, also damit, das Fach einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“
Menschen für Polyeder zu begeistern, versucht Anna Maria Hartkopf nicht nur online. Sie hat das Projekt unter anderem auch beim Science Slam im Rahmen der diesjährigen Langen Nacht der Wissenschaften an der Freien Universität Berlin und bei Workshops in Schulen vorgestellt sowie Unterrichtmaterial für die Klassenstufen fünf bis acht entwickelt. Polyeder sind zwar nicht Teil des Lernstoffs im Mathematikunterricht, haben aber viele Aspekte, die einzelne Bereiche der vorgegebenen Themen abdecken. „Den Schülerinnen und Schülern hat es unheimlich viel Spaß gemacht“, sagt die Diplom-Mathematikerin, die vor Ihrer Promotion selbst Lehrerin an einer Berliner Gesamtschule war.
„Otto von Gunderlund“ wurde bereits adoptiert.
Bildquelle: Screenshot von www.polytopia.eu am 7.11.2018
Unterstützt wurde Anna Maria Hartkopf bei „Adoptiere ein Polyeder“ von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität Berlin – etwa beim Programmieren der Webseite und beim Erstellen der Virtual Reality-Funktion sowie von Didaktikerinnen bei der Erstellung des Schulmaterials.
„Adoptiere ein Polyeder“ ist ein Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Discretization in Dynamics and Geometry“ („Diskretisierung in Geometrie und Dynamik“). Der SFB ist als sogenannter Transregio ein Zusammenschluss der Technischen Universität Berlin und der Technischen Universität München. An verschiedenen Teilprojekten, darunter „Adoptiere ein Polyeder“, ist die Freie Universität Berlin beteiligt. Der SFB wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, die Polyeder-Webseite darüber hinaus von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung unterstützt.
„Mit diesem bürgerwissenschaftlichen Projekt wollen wir die Möglichkeit schaffen, aktiv und gestaltend an Mathematik teilzunehmen“, erklärt der Sprecher des SFB Professor Alexander Bobenko von der Technischen Universität Berlin. „Jeder ist dazu eingeladen, bei dem Projekt mitzumachen und ein Polyeder zu adoptieren“, sagt der Präsident der Freien Universität Berlin und Mathematik-Professor Günter M. Ziegler, Hartkopfs Doktorvater.
„Es gibt nur ein einziges Polyeder mit vier Ecken, mit 18 Ecken sind es viele Billiarden.“ Anna Maria Hartkopf
Persönlich findet Anna Maria Hartkopf Polyeder sehr schön, weil sie eigentlich so einfach seien. Sie haben nur Ecken, Kanten und ebene Seitenflächen, aus denen man sich alles Mögliche bauen könne. „Wenn man sich überlegt, wie viele kombinatorische Möglichkeiten es gibt, dann wird einem sehr schnell bewusst, was für eine Vielfalt die Polyeder darstellen“, sagt sie. „Und wenn ich eine Ecke ein kleines bisschen verschiebe, dann verändert sich gleich die ganze geometrische Figur. Das finde ich ungemein spannend.“
Die Zahl möglicher Polyeder wächst rapide mit der Zahl der Ecken. „Es gibt beispielsweise nur ein einziges Polyeder mit vier Ecken, bei neun Ecken sind wir schon bei mehr als 2.000 Körpern, mit 18 Ecken sind es viele Billiarden“, erklärt Anna Maria Hartkopf. Trotz steigender Zahl übernommener Patenschaften rechne sie deshalb nicht mit Engpässen. „Die Polyederversorgung der Weltbevölkerung kann mühelos garantiert werden.“