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Der simulierte Mensch

Auf einem neuen Bio- und Medizintechnologie Campus der Charité und der Technischen Universität Berlin arbeiten künftig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beider Institutionen daran, medizinische Modelle nach menschlichem Vorbild zu entwickeln

28.06.2018

Bei der „Organ-on-a-chip“-Technologie werden die Physiologie und Mechanik von Organen, Organsystemen oder Geweben im Mikromaßstab auf Chips von der Größe einer Spielkarte simuliert.

Bei der „Organ-on-a-chip“-Technologie werden die Physiologie und Mechanik von Organen, Organsystemen oder Geweben im Mikromaßstab auf Chips von der Größe einer Spielkarte simuliert.
Bildquelle: Anke Peters

Vor rund 100 Jahren setze sich in der medizinischen Forschung die Idee durch, Tiere als Modell für den menschlichen Körper heranzuziehen und im Tierexperiment neue Medikamente oder Therapien auszuprobieren. Das ermöglichte wichtige Fortschritte in der Forschung, an denen Berliner Wissenschaftler wie Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring und Otto Warburg einen großen Anteil hatten. Jetzt haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Berlin zum Ziel gesetzt, neue Technologien zu entwickeln, die es in vielen Bereichen ermöglichen könnten, Tierversuche durch sogenannte humane Modellsysteme zu ersetzen.

Dazu planen die Technische Universität Berlin und die Charité – Universitätsmedizin Berlin, die gemeinsame medizinische Fakultät von Freier Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin, ein gemeinsames Forschungsgebäude, das vom Wissenschaftsrat im April 2018 zur Förderung in Höhe von 34 Millionen Euro empfohlen wurde. Der Neubau soll bis 2023 an der Seestraße in Berlin-Wedding fertiggestellt werden, anteilig finanziert durch den Bund und das Land Berlin im Rahmen des Programms für Forschungsbauten an Hochschulen. Das Haus wird gemeinsam von den beiden Partnerinnen Charité und Technische Universität Berlin betrieben.

"Die Zeit ist reif, den simulierten Menschen als experimentelles Modell in den Fokus zu rücken."

„Die Medizin steht vor der großen Herausforderung, eine Lösung für die Zeit nach den Antibiotika zu finden. Das Ende dieser Ära ist aufgrund der ständig steigenden Resistenzen schon jetzt absehbar. Daneben steht Krebs immer noch im Mittelpunkt der medizinischen Forschung. Dreh- und Angelpunkt dieser Erkrankungen ist das menschliche Immunsystem. Daher richten immer mehr Forscherinnen und Forscher ihr Augenmerk auf Immuntherapien“, sagt Prof. Dr. Andreas Thiel vom Berlin-Brandenburg Center für Regenerative Therapien (BCRT) an der Charité.

„Das Dilemma ist, dass viele dieser neuen Strategien nur im Menschen getestet werden können, und genau das ist natürlich nicht möglich“, ergänzt Prof. Dr. Roland Lauster, Fachgebietsleiter der Medizinischen Biotechnologie an der Technischen Universität Berlin. Die beiden Wissenschaftler sind die Initiatoren des geplanten Forschungsbaus „Der simulierte Mensch“, kurz: „Si-M“.

Andreas Thiel ist Professor "Regenerative Immunologie und Alterung" am Berlin-Brandenburg Centrum für Regenerative Therapien (BCRT) der Charité - Universitätsmedizin Berlin.

Andreas Thiel ist Professor "Regenerative Immunologie und Alterung" am Berlin-Brandenburg Centrum für Regenerative Therapien (BCRT) der Charité - Universitätsmedizin Berlin.
Bildquelle: Jacqueline Hirscher

„Jetzt verfügen wir in der medizinischen Biotechnologie über Methoden, menschliche Zellen und menschliches Gewebe so zu kultivieren und zu testen, dass es den Bedingungen im menschlichen Körper entspricht. Die Zeit ist reif, den simulierten Menschen als experimentelles Modell in den Fokus zu rücken“, so Roland Lauster.

Derzeit konzentrieren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei auf Methoden wie die „Organ-on-a-chip“-Technologien, das 3D-Bioprinting oder auch modernste Technologien der Einzelzellanalyse. Bei der „Organ-on-a-chip“-Technologie werden die Physiologie und Mechanik von Organen, Organsystemen oder Geweben im Mikromaßstab auf Chips von der Größe einer Spielkarte simuliert. Diese Organsysteme können in verschiedenen Kompartimenten auf dem Chip ‚platziert‘ werden. Über integrierte Mikropumpen werden sie von einer Nährlösung versorgt oder auch so miteinander verbunden, dass ein Austausch von Zellen stattfinden kann.

Beim 3D-Bioprinting wiederum werden druckbare Biomaterialien, sogenannte Bioinks, und 3D-Drucker entwickelt, mit denen unter anderem funktionale 3D-Modelle von Organen im Miniformat produziert werden können.

An der Technischen Universität Berlin leitet Roland Lauster das Fachgebiet Medizinische Biotechnologie.

An der Technischen Universität Berlin leitet Roland Lauster das Fachgebiet Medizinische Biotechnologie.
Bildquelle: Ulrich Dahl - Stabsstelle Presse, Öffentlichkeitsarbeit und Alumni - Technische Universität Berlin

Bei der dritten Methode, mit der die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derzeit arbeiten, handelt es sich um die neuesten Verfahren der Einzelzellanalyse. Die Technologie nutzt die Erkenntnis, dass sowohl die genetischen Ausstattung aber auch das Vorhandensein bestimmter Proteine in einzelnen Zellen, zum Beispiel aus einer Blutprobe, frühzeitig Aufschluss über bestimmte Erkrankungen geben könnten; diese Erkenntnisse aber in der Analyse der gesamten Probe oft untergehen. Der Trick bei der Einzelzellanalyse ist, innerhalb einer Blutprobe anhand verschiedener Merkmale, die wenigen Zellen zu identifizieren, die verändert sind. Außerdem ermöglichen es diese Verfahren, einzelne Zellen anhand multipler Merkmale in verschiedenen Gewebeproben genauestens zu identifizieren. So lassen sich krankhaft veränderte Zellen sehr viel früher erkennen als bislang.

"Wir verfügen über Methoden, Zellen und Gewebe so zu kultivieren und zu testen, dass es den Bedingungen im menschlichen Körper entspricht."

Wofür das gut sein kann, zeigt das simple Beispiel eines Sonnenbrands: Was passiert dabei im Körper, welche Entzündungsprozesse finden statt, welche Zellen, welche Reaktionsmechanismen sind beteiligt? Da jeder Sonnenbrand irreversible Schäden hervorruft, kann das am Menschen nicht getestet werden – und ebenso wenig am Tier. Neben ethischen Gründen sprechen auch wissenschaftliche Gründe dagegen, da die Hautstruktur bei Mensch und Tier zu unterschiedlich ist. Moderne Verfahren erlauben es, das Organ Haut inklusive seiner physiologischen Umgebung zu kultivieren, zu testen und zu analysieren.

Genau mit solchen Visionen im Kopf entwickelten die beiden Professoren Roland Lauster und Andreas Thiel die Idee einer gemeinsamen Forschung an der Schnittstelle der Ingenieurwissenschaften der Technischen Universität Berlin und der Medizin der Charité. Einige der neuen Techniken, wie zum Beispiel die Chip-Technologie oder das 3D-Bioprinting, wurden wesentlich an der Technischen Universität Berlin entwickelt oder weiterentwickelt. In Forschungsprojekten an der Charité kommen diese Technologien in Ansätzen bereits zum Einsatz und ebenso werden für weitere Untersuchungen unter anderem die neuesten Methoden der Einzelzellanalyse genutzt. In dem gemeinsamen Wissenschaftshaus Si-M sollen beide Institutionen nicht nur kooperieren, sondern Seite an Seite unter einem Dach arbeiten und damit völlig neue Möglichkeiten in der Forschung an humanen Modellen eröffnen.

Querschnitt-Modelldarstellung der Organ-on-a-chip-Technologie.

Querschnitt-Modelldarstellung der Organ-on-a-chip-Technologie.
Bildquelle: TissUse GmbH

An potentiellen gemeinsamen Projekten mangelt es beiden Institutionen nicht. Fast 50 geplante Kooperationsprojekte listet der Antrag für das Si-M auf. „Jetzt kommt es darauf an, mit der Forschung sobald wie möglich zu beginnen – damit die neuen Forschungsansätze auch in neuen diagnostischen und therapeutischen Verfahren münden. Die Translation der Ergebnisse in reale medizinische Anwendungen kann sehr viel schneller erfolgen als früher“, sagt Andreas Thiel.

"Die Effizienz neuer Therapien kann vermutlich drastisch erhöht, die Nebenwirkungen für die Patienten verringert und auch die Kosten reduziert werden."

Ein gutes Beispiel für mögliche Projekte sind alle Therapien, die sogenannte Checkpoint-Blockade-Inhibitoren verwenden. Diese werden in der Immuntherapie bei bestimmten Krebsarten verwendet. Dabei wird dem Patienten ein spezieller Antikörper (ein Protein) gegeben, dessen Wirkung es dem körpereigenen Immunsystem ermöglicht, Metastasen und Tumore regelrecht aufzulösen. Mit solchen Therapien sind bei manchen Krebsarten langfristige Heilungsraten von 30 bis 40 Prozent erzielt worden. Problematisch ist: Diese Antikörper greifen in das gesamte Immunsystem ein, zum Teil mit erheblichen Nebenwirkungen, und sie sind extrem kostspielig.

„Kombiniert man die ‚Organ-on-a-Chip‘-Technologie der Biotechnologie an der Technischen Universität Berlin mit der medizinischen Expertise der Charité könnten individuelle Krebszellen aus einer Biopsie genommen werden, um daraus unter physiologischen Bedingungen Tumore auf dem Chip zu kultivieren. An solchen Tumoren könnte getestet werden, welche der verschiedenen neuen Therapien am besten wirkt, um die für die Patientinnen und Patienten wirkungsvollste Behandlung zu ermitteln“, erklärt Andreas Thiel. „Damit könnte die Effizienz der neuen Therapien vermutlich drastisch erhöht, die Nebenwirkungen für die Patienten verringert und zusätzlich auch die Kosten reduziert werden.“

Schlagwörter

  • Forschung
  • Lebenswissenschaften