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„Ich bin kein Flüchtling. Ich bin eine Wissenschaftlerin im Exil.”

Die türkische Soziologin Nil Mutluer forscht mit einem Philipp Schwartz-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Berliner Humboldt-Universität.

02.11.2017

Die Soziologin Nil Mutluer hatte sich in ihrer Heimatstadt Istanbul politisch engagiert und deshalb ihre Stellung an einer Universität verloren.    Mit einem Philipp Schwartz-Stipendium forscht sie nun an der Humboldt-Universität

Die Soziologin Nil Mutluer hatte sich in ihrer Heimatstadt Istanbul politisch engagiert und deshalb ihre Stellung an einer Universität verloren. Mit einem Philipp Schwartz-Stipendium forscht sie nun an der Humboldt-Universität
Bildquelle: Ralf Bergel, Bildrechte: HU

„In der Türkei wird wissenschaftliche Arbeit eher politisch als akademisch wahrgenommen”, sagt die türkische Sozialwissenschaftlerin Nil Mutluer in einem Café in Berlin-Schöneberg. Sie forscht zu Nationalismus in der Türkei, Männlichkeit, Staatsgewalt und Antiintellektualismus, bis Anfang 2016 leitete sie das Institut für Soziologie an der Nişantaşı-Universität in Istanbul. Wie viele ihrer Wissenschaftlerkolleginnen und -kollegen wurde die als kritische Kommentatorin der politischen Situation bekannte Professorin durch ihre Arbeit zur Zielscheibe für türkische Nationalisten. Im Juli letzten Jahres verließ Nil Mutluer die Türkei, seitdem lebt und forscht sie als Philipp-Schwartz-Stipendiatin der Humboldt-Universität in Berlin. 

„Für Sozialwissenschaftler gibt es keine Objektivität“, sagt Nil Mutluer. Sie habe versucht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, sei während ihrer Feldforschung aber immer öfter auf Menschenrechtsverstöße aufmerksam geworden. „Wenn man ein kritischer Geist ist, fällt es schwer, nicht darüber zu sprechen.”

Weil sie gemeinsam mit mehr als 2000 weiteren türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Petition „Akademiker für den Frieden“ unterstützt hat, die sich gegen türkische Angriffe auf Kurden ausspricht, verlor Mutluer im Februar 2016 ihre Professur. In türkischen Medien wurde sie als Terroristin bezeichnet.

Trotz der persönlichen Gefährdung wollte sie die Türkei zunächst nicht verlassen. Erst nach einer E-Mail von Gökçe Yurdakul, Professorin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität, änderte sie ihre Pläne. Ob Mutluer schon Initiativen kenne, die in ihren Heimatländern bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen, fragte Yurdakul. Nil Mutluer war interessiert – und nur wenige Monate später forschte sie bereits als Philipp Schwartz-Stipendiatin an der Humboldt-Universität.

Ein Programm für akademische Freiheit

Eigenbewerbungen sind bei der Philipp Schwartz-Initiative nicht möglich. Stattdessen bewerben sich Hochschulen in Deutschland in einem kompetitiven Verfahren um Mittel zur Vergabe der Stipendien. So soll sichergestellt werden, dass die potentiellen Stipendiaten schon mit Kolleginnen und Kollegen der Gastuniversitäten in Kontakt stehen, was einen Bezug zum Forschungskontext belegt.

Gefährdete Forschende an den Berliner Universitäten werden neben der Philipp-Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung auch über Gelder des Scholar Rescue Fund gefördert. Das Programm des Institute of International Education (IIE) ist eine unabhängigen Nonprofit-Organisation mit Sitz in den USA. Einige Forscherinnen und Forscher werden auch durch Eigenmittel der jeweiligen Universität unterstützt.

Neben Nil Mutluer forschen aktuell zwei syrische Philipp Schwartz-Stipendiaten an der Humboldt-Universität. Eine weitere Stipendiatin aus der Türkei wird voraussichtlich zeitnah dazu stoßen.

Die Freie Universität hat seit 2011 sechs gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Syrien und dem Iran aufgenommen, vier weitere aus Syrien und der Türkei werden in den nächsten Monaten erwartet. Freie Universität und Humboldt-Universität sind zudem Mitglieder im internationalen Scholars at Risk-Netzwerk. An der Technischen Universität Berlin forscht seit Beginn des Jahres ein syrischer Architekt, eine Informatikerin aus der Türkei wird ihre Arbeit bald aufnehmen.

Im Rahmen der Philipp Schwartz-Initiative werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Leistung und Kompetenz ausgewählt. Auch an den Universitäten hebt man den Expertenstatus der Akademiker hervor, man will eine Stigmatisierung vermeiden.

„Die Auswahl erfolgt danach, wer das beste wissenschaftliche Profil hat, und nicht nach der kaum zu beurteilenden Frage, wer am meisten gefährdet ist, sagt Inse Böhmig, Referentin in der Stabsstelle Internationalisierung und Ansprechpartnerin der Initiative Refugees Welcome an der Humboldt-Universität. Dieses Selbstverständnis ist auch Nil Mutluer wichtig. „Ich bin kein Flüchtling”, sagt sie. „Ich bin eine Wissenschaftlerin im Exil.” 

„In der Türkei gibt es für mich kein Leben“

Für Inse Böhmig bringen die Forschenden „spannende neue Ansätze und vielfältige individuelle Netzwerke in das wissenschaftliche Portfolio der jeweiligen Fachbereiche ein“. Wichtig sei es aber, über die zweijährige Förderung hinaus zu denken. Denn die meisten Wissenschaftler, die beispielsweise über das Philipp-Schwartz-Stipendium oder Scholars at Risk an Berliner Universitäten kommen, können in absehbarer Zeit nicht wieder in ihrem Heimatland arbeiten.

Das gilt auch für Nil Mutluer. Sie sagt: „In der Türkei gibt es für mich kein Leben.” Sie möchte langfristig in Deutschland bleiben und forschen. „Ein großer Teil der Betreuungsleistung liegt darin, frühzeitig mitzudenken, welche Perspektiven sich ergeben”, sagt Inse Böhmig. Dazu gehöre auch die Unterstützung bei Anträgen für Anschlussfinanzierungen an der Universität oder anderen Einrichtungen.

Damit dieser Übergang reibungslos funktioniere, brauche es viel Übersetzungsarbeit, sagt Baris Ünal, Leiter der Allgemeinen Studienberatung und Flüchtlingsbeauftragter der Technischen Universität Berlin. „Die Karrieren in der Wissenschaft können sich von Land zu Land sehr unterscheiden.” Daher bräuchten die internationalen Kollegen spezifische Beratung, wie ihr zukünftiger Karriereweg aussehen könnte.

Auch Nil Mutluer muss sich noch an die Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen Systemen gewöhnen. Forschung in Deutschland sei sehr projektbezogen organisiert, sagt sie. „Viel dreht sich darum, die Finanzierung zu sichern.” Fachlich habe sie als Wissenschaftlerin, die ohnehin international arbeite, keine Schwierigkeiten gehabt, sich in Berlin einzufinden. „Die Kollegen und Mentoren unterstützen mich sehr.” Es seien vielmehr praktische Dinge gewesen, die ihr den Start erschwert hätten: eine Wohnung zu finden etwa.

Die Entwicklungen in ihrer Heimat reißen Nil Mutluer immer wieder aus ihrem deutschen Alltag. Auch in Berlin ist die Wissenschaftlerin politisch aktiv. „Meine Freunde und meine Kollegen sind noch in der Türkei, und ich denke oft an sie”, sagt Mutluer. Auch an diesem Nachmittag im Café empfängt sie immer wieder Nachrichten auf ihrem Handy, alle aus der Türkei. In solchen Momenten fühle sie sich Istanbul näher als Schöneberg, sagt sie.

Weitere Informationen

Weltweit werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und angehende Akademikerinnen und Akademiker aufgrund ihrer Forschungen und Ideen verfolgt, bedroht und in ihrer Arbeit eingeschränkt. Die Berliner Universitäten setzen sich in unterschiedlichen Programmen und Initiativen für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein.

Die Philipp Schwartz-Initiative wurde von der Alexander von Humboldt-Stiftung gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt ins Leben gerufen und ermöglicht Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Deutschland die Verleihung von Stipendien für Forschungsaufenthalte an gefährdete Forscherinnen und Forscher. Teil der Initiative sind neben den Stipendien Mittel für die Schaffung von Strukturen an den Gasteinrichtungen sowie Tagungen zum Austausch und zur Vernetzung zwischen den Gasteinrichtungen. Dabei arbeitet die Alexander von Humboldt-Stiftung eng mit internationalen Partnern wie dem Scholars at Risk Network, dem Scholar Rescue Fund und dem Council for At-Risk Academics zusammen. 

Eine der Kernaufgaben des internationalen Netzwerks Scholars at Risk ist es, in einer Vermittlerfunktion Forschende und Lehrende, die in ihrem Heimatland bedroht und verfolgt werden, mit einem Gastaufenthalt an einer der Mitgliedshochschulen des Netzwerks zu unterstützen.

Schlagwörter

  • Politik- und Gesellschaftswissenschaften
  • Porträt