Den Geheimnissen des Gehirns auf der Spur
Das Graduiertenkolleg Sensory Computation in Neural Systems schlägt eine Brücke von der einzelnen Nervenzelle bis zum Verhalten des Menschen.
20.10.2017
Wie funktionieren neuronale Netzwerke im Gehirn? Bildgebende Verfahren sind nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Wie funktioniert Wahrnehmung und wie wirkt sie sich auf unser Verhalten aus? Diesen Fragen gehen die Doktorandinnen und Doktoranden des Graduiertenkollegs Sensory Computation in Neural Systems auf den Grund. Aus ihrer Forschungsfrage ergeben sich viele weitere: Wie beeinflussen Erwartungen und Erfahrungen die Wahrnehmung? Welche sensorischen Reize wirken sich auf die Entscheidungsfindung aus? Welchen Einfluss haben Aufbau und Struktur von Nervenzellen auf deren Funktionsweise? Wie werden Informationen in neuronalen Netzwerken dargestellt und übertragen? Im Fokus der Forschungen zu diesem Thema steht die allgemeine Frage, wie das menschliche Gehirn funktioniert. „Über dieses System bekommen wir – in Anbetracht seiner Komplexität – rein empirisch zu wenige Informationen“, sagt Elektrotechnik- und Informatikprofessor Klaus Obermayer, Leiter des Kollegs sowie des Fachgebiets Neuronale Informationsverarbeitung am Institut für Softwaretechnik und Theoretische Informatik der Technischen Universität Berlin.
Um den Geheimnissen des Gehirns auf die Spur zu kommen, ohne tatsächlich ein menschliches Gehirn zu untersuchen, setzen Obermayer und seine Mitarbeiter am Graduiertenkolleg auch auf Modelle. „Bei uns arbeiten viele Doktoranden mit einem formalen Hintergrund – etwa Mathematiker, Physiker und Ingenieure. Sie bringen entscheidenden theoretischen Input für unsere Arbeit“, sagt Obermayer.
Großes wissenschaftliches Spektrum
Das wissenschaftliche Spektrum des Graduiertenkollegs ist breit gefächert. Hier kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Expertise aus den Forschungsbereichen Kognitionswissenschaft, maschinelles Lernen, Tierphysiologie, künstliche Intelligenz, funktionelle Bildgebung, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammen. Diese Mischung spiegelt die Interdisziplinarität und Vielfältigkeit der Berliner Forschung wider.
Theorie und Praxis werden bei der Zusammenarbeit dieser verschiedenen Disziplinen eng verzahnt. Alle Doktorandinnen und Doktoranden werden von je zwei Personen bereut, deren Expertise in jeweils der theoretischen beziehungsweise praktischen Forschung liegt. .
„Bei unserer Forschung unterscheiden wir grundsätzlich zwei Methoden, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Erkenntnisgewinn dieser komplexen Zusammenhänge anwenden“, erläutert Obermayer, „zum einen die Datenerhebung unter kontrollierten experimentellen Bedingungen, zum anderen die mathematische Modellierung und Computersimulationen. Damit schlagen wir eine Brücke von der einzelnen Nervenzelle bis zum Verhalten des Menschen“.
Wie die Forscherinnen und Forscher das Gehirn mit theoretischen und praktischen Methoden erkunden, erläutert Professor Felix Blankenburg vom Arbeitsbereich Neurocomputation and Neuroimaging der Freien Universität Berlin. Er arbeitet beispielsweise mit der sogenannten Elektroenzephalografie, kurz EEG, mit deren Hilfe die bioelektrische Aktivität bestimmter Gehirnregionen an der Schädeloberfläche registriert werden: „EEG-Daten geben aber nicht die neuronale Aktivität im Einzelfall wieder, sondern lediglich deren Summe.“ Um herauszufinden, was auf der neuronalen Ebene passiert, werden die experimentell erhobenen Daten deshalb in einen Rechner eingespeist. „Mit Hilfe von Modellen, welche auf empirischen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnissen basieren – etwa, wie schnell Neuronen Informationen weitergeben oder wie Zellen aufgebaut sind – versuchen wir dann, auf die tatsächlich zugrundeliegende neuronale Aktivität zurückzuschließen“, sagt Blankenburg. „So können wir die grundsätzlichen Prinzipien der Informationsverarbeitung des Gehirns, auch im Zusammenspiel von verschiedenen Hirnarealen, untersuchen“.
Geheimnisse des Gehirns
Auch psychologische Aspekte sind Teil der Arbeit im Graduiertenkolleg. Das menschliche Verhalten spielt etwa bei der Entwicklung von Computern eine Rolle, die wie Menschen handeln sollen. Was bei der Installation dieser Maschinen beachtet werden muss, damit sie tatsächlich als menschlich wahrgenommen werden, wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfinden.
Ein ganz anderes Versuchsobjekt soll weitere Geheimnisse des Gehirns lüften: Grashüpfer sind wechselwarme Insekten, deren Körpertemperatur sich der Umgebung anpasst. Ob die Umgebungstemperatur 10 oder 30 Grad Celsius beträgt, macht für ihren Organismus also einen gewaltigen Unterschied. Bei der Partnerwahl der Grashüpfer spielt ihr Zirpen wiederum eine große Rolle. Die Tiere müssen die Signale ihrer Artgenossen richtig einordnen können – eine Fähigkeit, die sie erstaunlicherweise auch bei stark schwankenden Außentemperaturen gut beherrschen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Graduiertenkollegs möchten herausfinden, wieso die Neuronen der Grashüpfer-Hirne die komplexen Signale auch bei äußerst widrigen Umständen einordnen können, um der Funktionsweisen neuronaler Strukturen einen Schritt näher zu kommen.
Mit seinem breiten wissenschaftlichen Spektrum ist das Graduiertenkolleg auch ein Beispiel für die enge Vernetzung der Berliner Wissenschaftslandschaft und das gute Zusammenspiel der Akteure: Es wurde im Jahr 2010 von der Technischen Universität Berlin und dem Bernstein Center für Computational Neuroscience (BCCN) Berlin in Kooperation mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin eingerichtet. Das BCCN Berlin wiederum ist ein Verbundprojekt von Charité, Humboldt-Universität und Technischer Universität Berlin. Auch hier versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit mathematischen und theoretischen Methoden im Zusammenspiel mit Experimenten die Funktion des Gehirns zu entschlüsseln.