Schrittmacher fürs Gehirn
Neurologin Andrea Kühn erforscht und therapiert an der Charité Bewegungsstörungen.
19.07.2017
Andrea Kühn leitet die Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie der Berliner Charité und ist Mitglied im Vorstand des Exzellenzclusters NeuroCure.
Bildquelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin
Zittern, Zucken, Krämpfe – für Menschen, die unter Bewegungsstörungen leiden, wird manchmal schon ein Gang auf der Straße zum Spießrutenlauf. Sie müssen die fragenden Blicke ihrer Mitmenschen ertragen, werden oft ausgegrenzt. An der Charité – Universitätsmedizin Berlin untersucht ein Forschungsverbund die Ursachen von Bewegungsstörungen. Unter Leitung der Neurologin Professorin Andrea Kühn wollen Expertinnen und Expertisen unterschiedlicher Disziplinen in einer neuen Sektion die Zusammenhänge erforschen, um neue, passgenaue Therapien zu entwickeln.
Hoher Leidensdruck für die Betroffenen
Zu den häufigsten Krankheiten, die Bewegungsstörungen auslösen, zählt die Parkinson-Erkrankung, von der nach Zahlen der Deutschen Parkinson Gesellschaft derzeit mehr als 250.000 Personen in Deutschland betroffen sind. „Parkinson ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der aus bislang ungeklärten Gründen Nervenzellen im Mittelhirn zugrunde gehen, die den Botenstoff Dopamin herstellen“, erklärt Andrea Kühn, die die Sektion „Bewegungsstörungen und Neuromodulation“ am Campus Charité-Mitte leitet. „Parkinson-Patienten sind oft nicht mehr in der Lage, ihre Bewegungen zu steuern und werden unbeweglich. Sie fühlen sich wie eingefroren.“ Ursache sei, dass im Gehirn nicht mehr genug Dopamin produziert werde – ein Neurotransmitter, der unter anderem antriebssteigernd wirkt. „Die Medikamente, die diese Patienten einnehmen müssen, führen dann wiederum häufig zu einer Überbeweglichkeit, Betroffene können ihre Bewegungen nicht mehr gut koordinieren“, sagt Kühn. Mit der Krankheit sei ein hoher Leidensdruck verbunden. „Die Menschen werden oft stigmatisiert, weil sie durch ihr Verhalten überall auffallen und skeptisch beäugt werden. Viele Betroffene ziehen sich in der Folge komplett aus der Öffentlichkeit zurück.“
Neben Parkinson gibt es eine Reihe weiterer Erkrankungen, die Bewegungsstörungen verursachen. „Verhältnismäßig häufig sind etwa Dystonien, also Verkrampfungen, oder essentieller Tremor, ein Zittern der Hände bei Bewegungen, manchmal auch des Kopfes und der Stimme“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Hier sind die ursächlichen Zusammenhänge noch deutlich ungeklärter als bei Parkinson.“ Allen Erkrankungen gemeinsam sei jedoch, dass es sich um sogenannte Netzwerkerkrankungen handele. „Die verschiedenen Regionen des Gehirns tauschen sich mithilfe elektrischer Signale aus, die in rhythmischen Schwingungen Nervenimpulse weitergeleitet werden. Bei Bewegungsstörungen ist diese Informationsübermittlung gestört. Insbesondere die Kommunikation zwischen Großhirnrinde und Basalganglien – das sind kernartige Strukturen unterhalb der Großhirnrinde – funktioniert nicht mehr so, wie sie sollte.“
Beschwerden lindern mit Elektrostimulation
Wie eben jene Netzwerke miteinander kommunizieren und welche typischen Muster sich dabei ergeben, untersuchen Kühn und ihr Team in einem Zusammenschluss von Neurologen, Neurophysiologen, Psychiatern und Neurochirurgen an der Charité – Universitätsmedizin. „Gehirnzellen senden ihre Signale im Verbund und schwingen dabei etwa im gleichen Rhythmus. Je nach Erkrankung kann dieser Rhythmus in bestimmten Hirnregionen zu gering oder zu gleichförmig ausgeprägt sein.“ Durch Messungen der Hirnströme bestimmen die Wissenschaftler die Muster, mit denen die verschiedenen Hirnregionen eines Patienten „funken“. Mithilfe von Elektrostimulation ließen sich die krankhaften Rhythmen „überschreiben“ und die Beschwerden lindern, erklärt Kühn.
„Hierzu setzen wir einen sogenannten Hirnschrittmacher ein – ein Gerät, das dauerhaft Impulse sendet.“ Tiefe Hirnstimulation heißt das Verfahren, das als Therapie bereits heute in der Sektion „Bewegungsstörungen und Neuromodulation“ angeboten wird. Rund 50 solcher Operationen führen Andrea Kühn und ihr Team gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Charité pro Jahr durch, in der Regel an Parkinson-Patienten. „Dabei wird ein schmales Loch in die Schädeldecke des Patienten gebohrt, durch das der Neurochirurg eine Mikroelektrode ins Gehirn schiebt. „Währenddessen messen wir die Hirnaktivität und finden so heraus, an welcher Stelle genau die Elektrode endgültig platziert werden muss“, erklärt Kühn. „Bei der Operation sind die Patienten wach, so dass wir Stimulationseffekte unmittelbar testen können.“
Sitzt die Elektrode an der richtigen Stelle, wird dem Patienten ein kleiner, mit Batterie oder Akku betriebener Stimulator in etwa der Größe eines Kinder-Handteller seitlich unterhalb des Brustbeins eingesetzt. Über ein Kabel ist der Stimulator mit der Elektrode im Gehirn verbunden, die konstant hochfrequente Signale bei 130 Hertz aussendet – und damit die fehlerhaften Kommunikationsmuster in der erkrankten Gehirnregion „überschreibt“.
Mit Hirnschrittmacher in die Philharmonie
Anders als bei Herzschrittmachern ist das Verfahren jedoch noch nicht so weit entwickelt, dass es nach Bedarf Signale aussendet. „Herzschrittmacher funktionieren inzwischen in der Regel adaptiv. Das heißt, sie messen, ob das Herz unregelmäßig schlägt und greifen auch nur dann mit Hilfe eines Signals ein. Beim Hirnschrittmacher sind wir davon noch einen Schritt entfernt“, erklärt Kühn. Perspektivisch soll auch der Hirnschrittmacher einmal flexibel arbeiten können. „Eines unserer Ziele ist es, ein besseres Feedback über die Aktivität in der betroffenen Region zu erhalten, damit der Schrittmacher je nach Bedarf reagieren kann.“ Bereits heute gelinge es mithilfe des Verfahrens, das vor 25 Jahren erstmals angewendet und seitdem entscheidend weiterentwickelt worden sei, bedeutende Verbesserungen für die Betroffenen zu erzielen, sagt Kühn. „Besonders erinnere ich mich an eine 74-jährige Patientin, die eine leidenschaftliche Philharmonie-Besucherin war. Sie zitterte so stark, dass es ihr nicht gelang, die Füße beim Konzertbesuch still zu halten.“ Die unwillkürlichen Bewegungen und die dadurch verursachten Geräusche seien der älteren Dame derart unangenehm gewesen, dass sie kaum noch aus dem Haus gegangen sei. „Nach dem operativen Eingriff konnte sie wieder Konzerte besuchen“, freut sich Kühn.
Die Entstehung von Bewegungsstörungen besser zu verstehen, um möglichst früh intervenieren zu können – das ist das Ziel der Wissenschaftler. Hierzu setzen Kühn und ihre Kolleginnen und Kollegen vor allem auf den interdisziplinären Austausch und eine noch engere Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung, Klinikern und klinischen Neurophysiologen. Ein interdisziplinärer Ansatz und die Übertagung wissenschaftlicher Erkenntnisse der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung ist auch Fokus des Exzellenzclusters NeuroCure der Charité, in dessen Vorstand Andrea Kühn vertreten ist. „Unter anderem arbeiten wir mit dem Bernstein Center for Computational Neuroscience zusammen, das Computermodelle von neuronalen Verschaltungen entwirft und uns wertvolle Hilfe dabei gibt, neuronale Netze besser zu verstehen“, sagt Andrea Kühn. „Unser Traum ist natürlich, die Entwicklung der Erkrankungen eines Tages so gut zu verstehen, dass wir eingreifen können, bevor sich die Kommunikationsstörungen im Gehirn ausbilden.“
Weitere Informationen
Im Exzellenzcluster NeuroCure ergründen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Mechanismen neurologischer Erkrankungen, um innovative Behandlungswege zu finden. Im Zentrum der Forschung stehen Leiden wie Schlaganfall, Parkinson, Multiple Sklerose und Epilepsie, aber auch Alzheimer, Autismus, Depressionen und Schizophrenie werden am Cluster erforscht.
In jedem der einzelnen Forschungsgebiete arbeiten Grundlagenwissenschaftler eng mit Klinikern zusammen – damit Forschungsergebnisse schneller für die Entwicklung neuer Therapien genutzt werden können.
Sprecherhochschulen des Exzellenzclusters NeuroCure sind Freie Universität und Humboldt-Universität als Trägerinnen der Charité - Universitätsmedizin Berlin.
Beteiligt sind das Deutsches Rheuma-Forschungszentrum in Berlin, das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie in Berlin und das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin.