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Eine App soll Rückenschmerzen vorbeugen

In dem Innovationscluster BeMobil entwickeln Berliner Hochschulen gemeinsam einen „digitalen Coach“. Das Programm soll Skoliose-Patienten das Tragen eines Korsetts erleichtern.

13.06.2017

Schwimmen für einen gesunden Rücken: Kinder und Jugendliche, die unter einer Wirbelsäulenverkrümmung leiden, müssen auch beim Sport ein Korsett tragen.

Schwimmen für einen gesunden Rücken: Kinder und Jugendliche, die unter einer Wirbelsäulenverkrümmung leiden, müssen auch beim Sport ein Korsett tragen.
Bildquelle: chribier / www.photocase.de 

Ein Korsett tragen zu müssen, ist für Erwachsene schlimm genug, für Kinder und Jugendliche kann es zur Qual werden. Wissenschaftlerteams aus Berlin versuchen nun, den jungen Patienten die belastende Therapie mithilfe digitaler Helfer zu erleichtern. Über eine App auf ihrem Smartphone oder Tablet können die Patienten die Therapie selbst überprüfen und sich eigene Erfolgsziele setzen.  In einem Teilprojekt des regionalen Innovationsclusters BeMobil, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 15 Millionen Euro gefördert wird, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Einsatzmöglichkeiten eines „digitalen Motivations-Coach“, der Kinder und Jugendliche mit Wirbelsäulenverkrümmung beim Tragen eines Korsetts unterstützt.  Das Projekt zur Skoliosebehandlung ist eine Kooperation der Technischen Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität der Künste, der Sportmedizin der Universität Potsdam sowie der Unternehmen Nova Motum Services & Consulting GmbH und Code Mercenaries Hard- und Software GmbH.

Unterstützen und motivieren

Skoliose ist das Fachwort für eine Wirbelsäulenverkrümmung, die in Deutschland immerhin die häufigste orthopädische Behandlungsindikation bei Kindern und Jugendlichen, vor allem bei Mädchen, darstellt. Vielen Kindern und Jugendlichen wird zur Therapie das Tragen eines Korsetts verordnet. Es soll der Verkrümmung und Verdrehung der Wirbelsäule mechanisch entgegenwirken. Die Heilungschancen sind gut – allerdings nur, wenn die Patienten dieses Korsett während der Wachstumsphase täglich bis zu 23 Stunden lang tragen. 

„Das Tragen eines Korsetts mitten in der Pubertät wird von den wenigsten Kindern und Jugendlichen leicht akzeptiert“, sagt Susanne Dannehl, psychologische Psychotherapeutin und Mitarbeiterin am Fachgebiet für Medizintechnik der Technischen Universität Berlin. „Deshalb wollen wir unterstützend eingreifen und die Jugendlichen motivieren.“

Für die jungen Patientinnen und Patienten kommt erschwerend hinzu, dass die beste Therapie auch unter Ärzten und Kostenträgern noch diskutiert wird. Welche Korsettform ist am effektivsten? Wie lang muss die Stütze täglich getragen werden? „Das Problem ist, dass wir keine vernünftigen Vergleichsdaten haben“, sagt Professor Marc Kraft, Leiter des Fachgebietes Medizintechnik an der Technischen Universität Berlin. „Der Arzt sieht die Kinder in der Regel alle sechs Monate, und auch Eltern wollen und können nicht permanent die Tragedauer überwachen.“ Es sei deshalb nicht möglich, therapierelevante Daten wie Tragedauer oder Ausmaß der Bewegungen objektiv zu erfassen. „Genau diese Betreuungs- und Datenlücke wollen wir füllen“, sagt Marc Kraft: „Mit einem digitalen ‚Coach‘, der einerseits das Trageverhalten der Kinder und Jugendlichen registriert, sie aber andererseits auch motiviert, ihnen Anregungen und Hilfestellung gibt.“

Kleine leistungsstarke Messsysteme

Für den digitalen „Coach“ werden in die Korsetts verschiedene Sensoren integriert, die therapierelevante Aktivitätsdaten erfassen – wie Bewegung, Temperatur, Feuchtigkeit und Druckverhältnisse. „Unser Ziel ist es, diese Messsysteme so klein und leistungsstark zu konstruieren, dass sie ohne zusätzlichen Aufwand in ein Korsett eingebaut werden können. Moderne, drahtlose Funktechnik übermittelt die Daten an eine speziell entwickelte App auf das Smartphone der Jugendlichen“, erklärt Susanne Dannehl, die auch promovierte Psychologin ist.

Virtuelle Unterstützung: Über die App können die jungen Patienten die Therapie selbst überprüfen und sich eigene Erfolgsziele setzen.

Virtuelle Unterstützung: Über die App können die jungen Patienten die Therapie selbst überprüfen und sich eigene Erfolgsziele setzen.
Bildquelle: Screenshot: Digitaler Coach App

Mit der Frage, wie diese App und das Korsett gestaltet sein müssen, um von den Patienten auch wirklich genutzt zu werden, beschäftigen sich Professor Jörg Niewöhner vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Martina Klausner, eine promovierte Ethnologin. „Wir betreiben bei allen Projektbeteiligten eine Art Alltagswelt-Forschung: vom Hersteller der Orthesen, über die Wissenschaftler bis zu den Jugendlichen und ihren Eltern. Wir beobachten und analysieren die unterschiedlichen Verhältnisse und fungieren oft als Übersetzer für die jeweiligen Gruppen. Der Ingenieur, der fantastische Sensoren entwickelt, hat in der Regel keine Ahnung von den Bedürfnissen der 14-jährigen Patienten“, erläutert Jörg Niewöhner die Herausforderung. Da könne der Sensor noch so gut funktionieren: Wenn er sich nicht in den Alltag der Jugendlichen integrieren lasse, und wenn er nicht die für die Jugendlichen relevanten Daten auswerte, dann werde die Therapie auch nicht funktionieren.

Die Bedürfnisse der Patienten stehen im Mittelpunkt

„Weil wir weder Therapeuten noch Techniker sind, nehmen wir auch viel implizites, also nicht ausgesprochenes Wissen wahr“, sagt Martina Klausner. Ein gutes Beispiel sei die Kommunikation der Tragedauer. Jugendliche teilten ihren Tag nach Aktivitäten ein: Schule, Freizeit, Schlafen. In der Freizeit legten sie das Korsett gerne ‚nur mal eben’ ab. „In einer anfänglichen Version zeigte die App nur die Gesamt-Stundenzahl an, in der die Orthese getragen wurde“, sagt Martina Klausner. „Beim ersten Test des Systems durch die Patienten haben wir gelernt, dass die Jugendlichen sich zusätzlich wünschen, exakte Uhrzeiten angezeigt zu bekommen. Von wann bis wann wurde die Orthese getragen – und wann nicht? Das ist aus ihrer Sicht wichtig, um besser zu verstehen, wann eigentlich Probleme entstehen.“ Ähnlich verhalte es sich mit den Therapiezielen. „Hier hat unsere Forschung gezeigt, wie wichtig es ist, dass die Jugendlichen eigene Ziele festlegen und nicht nur den Druck verordneter Tragedauern verspüren.“

All diese Erkenntnisse flossen und fließen in die Entwicklung der App ein. Gemeinsam haben die Wissenschaftler von Technischer Universität Berlin, Humboldt-Universität und Universität der Künste bereits mehrere Workshops mit betroffenen Jugendlichen veranstaltet. Auch ein Belohnungssystem enthält die erste App-Version: Pro getragener Stunde können die Jugendlichen Punkte sammeln: Zum Beispiel in Form von Katzenbildern.

Schlagwörter

  • angewandte Forschung
  • Digitalisierung
  • Medizin
  • Wissenschaftsstandort Berlin